Freitag, 4. Oktober 2013

Kierkegaard und der Spießer (3)

Nur selten nutzt Kierkegaard den Spießbürger, um sich davon abzugrenzen. Seine Kampflinie verläuft meistens woanders. Der Spießer wird von ihm manches Mal berührt, aber im Grunde ist er zu weit weg von dem Geistesmenschen, der Kierkegaard interessiert. Er liegt so fern, dass er sich nicht ständig versichern muss, kein Spießbürger zu sein. Von dieser sicheren Warte aus kann ich nicht über den Spießer schreiben. Aber natürlich: Wenn Kierkegaard den Spießer als phantasielos, als geistlos bezeichnet, dann ist gerade er unendlich weit davon entfernt. Wer würde Kant unsystematisch und sprunghaft nennen? Wer schimpft Wilson Kipsang einen faulen Sack? Wer sagt Scarlett Johansson, sie solle sich nicht so gehen lassen?


Auch im heftigen Streit, den Kierkegaard mit der dänischen Landeskirche entzündete, spielt der Spießer nur eine kleine Rolle und selten ist er direkt genannt. Kierkegaard schreibt zum Beispiel:

„<<Hatte der Apostel Paulus irgendein Amt?>> Nein, Paulus hatte kein Amt. <<Verdiente er dann auf andere Weise viel Geld?>> Nein, er verdiente auf keine Weise Geld. <<War er denn wenigstens verheiratet?>> Nein, er war nicht verheiratet. <<Aber dann ist ja Paulus kein ernsthafter Mann!>> Nein, Paulus ist kein ernsthafter Mann."

Das (Spieß-)Bürgerliche ist hier der Maßstab, an dem gemessen wird. Aber das Genie oder der Apostel, sie passen nicht in die bürgerlichen Wandschrankschubladen. Kein Amt, kein sicheres Einkommen, keine Ehefrau, kein Zeichen der Spießigkeit. Das macht verdächtig. Der Spießer verdächtigt das Andere. Die Oberflächlichkeit, die Gedankenlosigkeit solcher Urteile greift Kierkegaard an. Und damit greift er auch das Spießbürgertum an.

Aber das ist nicht sein zentrales Anliegen, im folgenden Zitat kommt man dem etwas näher:
„In der prächtigen Domkirche tritt der hochwohlgeborene, hochwürdige geheime General-Oberhofprediger auf, der auserwählte Günstling der vornehmen Welt, er tritt auf vor einem auserwählten Kreis von Auserwählten, und predigt g e r ü h r t über den von ihm selbst ausgewählten Text: <<Gott hat auserwählt das Geringe vor der Welt und das Verachtete>> – und da ist niemand der lacht.“

Damit wird deutlich, worum sich Kierkegaards Ärger vor allem dreht: die Diskrepanz von Innerem und Äußerem. Das eine predigen, das andere tun – und es nicht einmal merken. Das ist nun nicht das Problem des Spießers – also, das Nicht-Merken schon, aber nicht die Diskrepanz von Innerem und Äußerem. Dem Spießer sieht man ja das Spießbürgerliche an; für gewöhnlich ist da keine Diskrepanz. Ein Jägerzaun ist ein Jägerzaun. Wenn der Jägerzaun dann ausnahmsweise kein Jägerzaun ist, sondern eine Bruchsteinmauer, ist man doch erfreut. Wenn im 80er Jahre Klinkerbau – meinetwegen – ein linker Katholik über Occupy-den-Kölner-Dom nachdenkt – dann freue ich mich doch, weil meine Vorurteile widerlegt sind.


Kierkegaard eher Dandy als Spießer. Zeichnung von Niels Christian Kierkegaard; Quelle: Wikimedia

 
Kierkegaard hat nebenbei ein Interesse am Spießer. Und, das ist am (vorläufigen) Ende dieser kleinen Kierkegaard-Serie nochmal festzuhalten: Er ist selber kein Spießer. Seine Schriften lassen sich nicht so gegen den Strich lesen, dass er am Ende doch als Spießbürger dasteht. Ach, dann könnte man ihn sogar eher zu seinem 200. Geburtstag als Sektierer und religiösen Fundamentalisten entdecken, wenn es denn unbedingt originell (und sehr falsch) sein soll.

Von dieser sicheren Warte aus kann ich nicht über den Spießbürger schreiben. Ich wache nachts mit schweren Träumen auf, den LBS-Slogan auf trockenen Lippen: Entdecke den Spießer in dir – – und bring' ihn um!


Quellen: Sören Kierkegaard: Der Augenblick. Aufsätze und Schriften des letzten Streits, übers. von Hayo Gerdes, Düsseldorf: Diederichs 1959 (zuerst dänisch 1855).
siehe auch den schönen Beitrag von Barbara Zillmann für den SWR2.

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