Lange ist das her. Ich saß bei meinem Cousin im Zimmer, und wir holten den Stoff der Geschichtsstunde nach. Wir hatten gesagt, wir holen den Stoff der Geschichtsstunde nach. Wir spielten Civilization. – Das gute an einer Computerspielreihe, die zwanzig Jahre lang immer wieder Nachfolger hervorgebracht hat, ist, dass ich mich gar nicht alt fühlen muss, wenn ich das schreibe. Welcher Teil es war, weiß ich beim besten Willen nicht mehr.
Wir spielten Civilization.
Realistischer als der Geschichtsunterricht. Wir hatten großen Wert auf die
technische Entwicklung unseres Volks gelegt. Erste Erfolge in der Wissenschaft
der Optik, da schlitterte unser Volk unerwartet in den Monotheismus. Das war
nicht geplant gewesen. Prompt standen einige Speerkämpfer auf der Karte,
Philister genannt, die mit dieser religiösen Entwicklung offenbar nicht
einverstanden waren. Da begegnete ich ihnen zum ersten Mal, den Philistern.
Ungebildete Barbaren, die unserer Reiterei unterlagen.
Sonst haben sie kaum den
Weg in die modernen Medien gefunden. In einem jüdischen Religionsunterricht
müssten sie auftauchen, im modernen Evangelischen Unterricht wurde das Alte
Testament ja oftmals gegen ein beliebiges Tierschutzprogramm ausgetauscht. Das
Volk der Philister ist in der Antike untergegangen, und langsam verschwindet
auch das Wort.
Vor zweihundert Jahren,
Romantik, war das anders. Der Philister – ich erwähnte ihn hier schon einmal –
wurde zum Modeschimpfwort der Dichter. Clemens Brentano, ein Dichter der, wenn
ich das richtig sehe, immer mehr ins Hintertreffen des Kanons gerät, vermutlich
verdrängt von Autoren, die sich für den Tierschutz engagieren, hielt vor
Freunden und Bekannten ein Rede über den Philister. Sie erschien als kleines
Büchlein 1811 mit dem Untertitel „Scherzhafte Abhandlung“, das ist im
Gedächtnis zu behalten.
Der Philister, so wie
Brentano ihn sieht, passt haargenau auf meinen Spießbürger. Doch Brentano
erlaubt sich einen Umgang mit ihm, der heute irgendwie zu frech wirkt. Er hat
einen diebischen Spaß, Gott auf seiner Seite zu wissen gegen die Philisterei.
Das antike Volk wird in diesem Essay für einen Moment identisch mit dem
philisterhaften Bürger. Wenn der alttestamentliche Riese Simson die Philister
scharenweise mit einem Eselsknochen erschlägt, hört man Brentano vor Freude
jauchzen. Das ist keine argumentative Strenge, aber auch kein schlechter
Scherz.
Der Philister wird hart
getroffen: „Ein Philister ist ein steifstelliger, steifleinener oder auch
lederner, scheinlebendiger Kerl, der nicht weiß, daß er gestorben ist, und ganz
unnötigerweise länger auf der Welt sich aufhält…“ Das ist ein großer Spaß, der
teilweise noch immer gut funktioniert, aber wer überhaupt soweit gelesen hat,
der hat sich bis dahin vermutlich ein paar Mal ganz ordentlich erschrocken.
Zwar geht es Brentano um
den Philister, um eine Abrechnung, eine Abgrenzung, eine maßlose Übertreibung.
Aber immer wieder taucht auch ‚der Jude‘ auf: „Gleich den Flüssen nun hat diese edle
Tischgesellschaft sich gesammelt, aus reinen, ursprünglichen und fröhlichen Herzen,
und hat ausgewiesen auf ewig von sich, […] die Juden und die Philister […].“
Oder auch: „Bei den Juden
assoniert [das heißt so viel wie „reimt sich“] Edel auf Ekel, bei den
Philistern auf Esel.“
Da ist man mittendrin in
der Vorgeschichte des grausigen Antisemitismus. Das klingt aus unserer
Perspektive nicht nur ‚schief‘ oder ‚unangemessen‘, sondern fatal! Das hätte er
besser nicht geschrieben. Aber warum lächle ich ungeniert über die Spötteleien,
die den Philister oder Spießer treffen? Liegt es einfach daran, dass dieser
eben nicht hunderttausendfach ermordet wurde?
Es gibt hier einen feinen,
aber, so glaube ich, sehr wichtigen Unterschied: ‚Den Juden‘ behandelt Brentano
– und das ist typisch – wie eine Geisteshaltung. Man kann ‚jüdisch‘ sein, so
wie man spießig ist. Aber die Juden sind ein Volk. Es gab Juden. Es gibt Juden.
Die Philister sind eben in der Geschichte verschwunden, der Typus des Spießers
betrifft immer nur eine Geisteshaltung, aber keine tatsächliche, nur eine
gedachte Gruppe von Menschen. Die Diskriminierung beginnt, weil ein echter
jüdischer Mensch dann im Denken ‚der Jude‘ wurde, also mit dem Typus des Juden
im Denken und Schreiben identisch wurde.
Da hat sogar die
Geschichte von Civilization noch ihre Ungenauigkeiten, denn ach, das kümmerte
uns alles nicht, als wir die Militärwissenschaft etablierten, die Kernfusion
erfanden, die Raketentechnik einführten.
Quellen: Clemens Brentano: Der Philister vor, in und nach der Geschichte. Scherzhafte Abhandlung, Zürich: Manesse 1988.
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