Montag, 6. Januar 2014

Fragilisten und Spießer


Das neue Jahr ist schon wieder sechs Tage alt. Vor einer Woche deckte Deutschland sich mit Sprengkörpern ein: Bombastica (Höllensound), Cheops Knall der Pyramiden Knaller, Boris 36-Schuss-Crackling-Batterie, Draconica (Hero, Terminator, Thors Hammer) oder der Knallsack mit Pfiff.

Natürlich, eine Grünenabgeordnete findet sich immer, die der taz erklärt, dass nun endlich dieses Geknalle aufzuhören habe. Aber nicht mehr, damit Brot statt Böller auf den Tisch kommt, sondern damit endlich dieser verdammte Lärm aufhört. Auch Haustiere wollen einen angenehmen Jahreswechsel begehen.

Eine Lösung hatte Frau Gebel auch schon in der Tasche: Geböllert werden darf nur noch auf großen Plätzen und Kreuzungen. Eine großartige Idee! Man verlagere einfach all die Sprengkörper auf die Stadtplätze! Vielleicht zunächst nur einmal in Gedanken. Das ist lustig genug. Was das für ein herrliches Gedränge gibt! Wie laut das wäre! Was bislang verteilt über viele Straßen viel zu läppisch daherkommt: Das bekommt eine ganz andere Dynamik, eine ganz andere, gebündelte Feuerkraft. Selbst in Kleinstädten dürfte das für das jahreswechsel-gerechte Bürgerkriegsgefühl sorgen. Danke, Frau Gebel.

Ganz sicher ist, dass die Wahrscheinlichkeit einer Böller-Verletzung auf diesen Plätzen steigt. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines solchen Unglücks ist, konnte ich nicht recherchieren. Sie dürfte steigen, wenn man die Einkäufe vorm Jahreswechsel in Tschechien gemacht hat. Sie dürfte steigen, wenn man am Silvesterabend gegen 12 Uhr das Haus verlässt. Sie dürfte auch steigen, wenn eine brennende Wunderkerze in die Einkaufstüte mit den Böllern hineinfällt.

Das Wahrscheinliche, so mutmaßte schon Kierkegaard, ist etwas für den Spießbürger. Nun bin ich in dem momentan stark diskutierten Buch „Antifragilität“ von Nassim Nicholas Taleb auf eine aufschlussreiche Parallele gestoßen. Taleb entwickelt dort die Idee der Antifragilität. Das Antifragile wäre etwas, das von den Zufällen, der Unbeständigkeit profitiert. Das Fragile zerbricht, wenn es hinunterfällt. Das Robuste bleibt ganz. Das Antifragile wird unter Umständen sogar besser. Überall beobachtet Taleb solche Antifragilitäten: Ein kleiner Schnupfen im Spätherbst hilft im Winter, wenn die Grippewelle kommt.

Taleb schreibt in seinem Buch auch über den sogenannten Fragilisten, und der kommt dem Spießer, wie Kierkegaard ihn sieht, in mancher Hinsicht sehr nahe. Der Fragilist, so Taleb, ist blind für das Undurchdringliche, das Geheimnisvolle. Er schreibt sich für die Welt eine Gebrauchsanweisung, und glaubt, die Welt funktioniere danach. Er lebt in der Welt des Wahrscheinlichen. Der große Irrtum, nach Taleb, der Fragilisten ist, dass eben auch das Unwahrscheinliche eintreten kann. So auch bei Kierkegaard, der vom Spießer sagt, er habe keine Phantasie.

Der Fragilist verlässt sich auf seine Wahrscheinlichkeiten, auf das, was er sehen und messen kann. Bei einem Hochwasser steigt das Wasser bis auf die Straße, aber nicht bis zu meinem Haus. Bis die „Jahrhundertflut“ kam. Das Unvorhergesehene. Und dann wieder: Die Jahrhundertflut hatten wir in diesem Jahrhundert bereits. Das ist ja unwahrscheinlich, dass die zweimal in einem Jahrhundert auftritt, so schnell geht das nicht.

Um im Beispiel zu bleiben: Der Fragilist würde eine Mauer bauen, so hoch, dass das Wasser ihn nicht erreichen kann – wahrscheinlich nicht erreichen kann. Antifragil wären eher Flussverlangsamungen, große Wiesen, die überflutet werden etc.

Taleb, und das macht ihn hier interessant, liefert eine Begründung, warum Spießertum – naja, also Fragilismus – gefährlich werden kann. Kleine messbare Erfolge, nicht absehbare Nebenwirkungen.

Tja, Frau Gebel, auch wenn Sie sagen, das sei ja kein neues Verbieten-Wollen, sondern im Gegenteil: Freiheit für Lärmempfindliche und Haustiere. Es bleibt dann beides. Der Verdacht einer Spießigkeit und der Verdacht unvorhersehbarer Nebenwirkungen – bei kleinen messbaren Erfolgen, wenn in Ihrer Nebenstraße, endlich!, Ruhe ist.

Quellen: Nassim N. Taleb: Antifragilität. Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen, München: Knaus 2013.

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