Dienstag, 24. September 2013

Kierkegaard und der Spießer (1)


Ursprünglich wollte ich heute pusteblumig über den Ökospießer schreiben. Das hätte an den letzten Beitrag über ‚Die Grünen‘ angeknüpft. Doch das erscheint mir nach den Ereignissen des Sonntags ganz verkehrt. Schwarze Wolken sind aufgezogen. Die Grünen landeten hart. Was da alles passiert ist, in der Zeit zwischen den überragenden Umfragen und der tatsächlich Wahl, weiß ich nicht. Vielleicht haben zu Viele ihre Wahlunterlagen für handgeschöpftes Papier gebraucht. Jedenfalls ist der Ökospießer heute erstmal vom Tisch. Und die nötige flockige Stimmung habe ich auch nicht. Ich bin zu ernst. Da hilft Sören Kierkegaard. Entweder aus dem Ernst heraus oder um endgültig aus der ernsten Stimmung ein Lebensmotto zu machen – das weiß man vorher nicht.

Jedenfalls versuche ich mich nun an Kierkegaard und dem Spießer: Ich folge recht frei seinen Beschreibungen des Spießbürgers in dem Buch mit dem – nun ja, sehr ernsten – Titel Die Krankheit zum Tode. Das Buch handelt von der Verzweiflung des Menschen, wie er verzweifelt, woran er verzweifelt, warum er das kann. So etwas interessiert Kierkegaard. Er geht immer wieder dem menschlichen Geist bis in seine Abgründe hinterher. Die Angst ist zum Beispiel ein anderes wichtiges Thema für Kierkegaard. Hier die Verzweiflung. Die Verzweiflung, so Kierkegaard, ist eine Geisteskrankheit. Um also verzweifeln zu können, muss man Geist haben. Das Schaf auf der eingezäunten Wiese, das die allerletzten Grashalme frisst – ich vermute, der Ökobauer ist zur CDU gewechselt und hat seine Schafe vergessen –, es verzweifelt nicht. Das Schaf wird irgendwann verhungern, aber vorher nicht verzweifeln. Ihm fehlt der Geist. Und dem Spießbürger, so Kierkegaard, fehlt ebenfalls der Geist: „Spießbürgerlichkeit ist Geistlosigkeit“. Das ist einerseits vernichtend für den Spießbürger, andererseits zunächst nicht besonders einleuchtend, scheint doch zwischen dem Schaf und dem Spießer noch ein Unterschied zu bestehen. Wie hat Kierkegaard das gemeint?

Zurück zum Schaf, das ich nun mit ein wenig Geist ausstatte. Es wird zum ersten Mal auf diese eingezäunte Wiese gebracht. Es fängt an zu fressen, und es weiß, irgendwann wird kein Gras mehr übrig sein. Ein fatalistisches Schaf wird nun verzweifeln, weil es keinen Ausweg aus dieser Lage sieht. Ein Schaf mit Phantasie wird sich einen Ausweg denken können: Vielleicht wächst das Gras schneller als geahnt, vielleicht tut sich im Zaun eine Lücke auf, vielleicht fällt Gras vom Himmel. Dem Spießbürger fehlt die Phantasie, er hat nur die Alltagserfahrung und will alles da hineinzwängen. Er verzweifelt aber auch nicht, wie das fatalistische Schaf, er nimmt es, wie es kommt. Er frisst den letzten Grashalm und verhungert.

Vorher wird er sich ärgern. Das Schaf wird blöken, der Spießbürger schimpfen. Das kann er. Verdammt nochmal, wieder keine Ruhe, zehn Uhr durch und der Koslowski von oben hat immer noch die Musik an. Diese Scheiß-Politiker, die machen doch, was sie wollen, aber die sollten mal jeden Tag richtig was arbeiten, die wissen doch gar nicht, wie das ist. Wenn noch einmal dieser beknackte Mehmet, oder wie der heißt, seinen Ball in meinen Garten schießt!

So ungefähr könnte der Spießer, nach Kierkegaard, schimpfen. Alles wird hineingezwängt in die Alltagserfahrung. Der Spießer, er wird nicht verzweifeln, aber er wird vor allem nicht glauben, dass sich etwas ändern könnte. Alles läuft nach seiner Erfahrung ab. Er wartet schon auf den Ball des Jungen, der im Übrigen Mohammed heißt, er wartet schon, dass dieser Ball wieder in seinem Garten landet, um sich dann zu ärgern. Der Spießbürger hat seine Wahrscheinlichkeit. Er hat seine Erfahrung, aber keine Phantasie, keinen Geist.

Und das ist nun nicht erfreulich für den Spießer, sondern ziemlich ernst.


Quellen: Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti-Climacus, übers. v. Hermann Gottsched, Jena 1911, zuerst dänisch 1849.

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