Montag, 4. November 2013

Expressionisten und Bürger (1)


2012 wurde das frühe expressionistische Bild Der Schrei von Edvard Munch bei Sotheby’s für 119.922.500 US-Dollar versteigert. Das ist einer der höchsten Preise, der je für ein Kunstwerk erzielt wurde. Und dafür hätte man ein ganzes Museum mit impressionistischen Seerosen und Fontänen einrichten können. Der Schrei zählt sicherlich nicht erst seit dem letzten Jahr zu den bekanntesten europäischen Gemälden. Es versteht sich also von selbst: Der Expressionismus ist in der Gesellschaft angekommen. Da erschrickt kein Bürger mehr.

Edvard Munchs Schrei: ein höherer Marktwert als die Fußballmannschaft von Borussia Mönchengladbach.

Vor 100 Jahren war das anders. Die expressionistische Kunst erregte Aufsehen, sowohl die bildende Kunst als auch die Literatur. Und sie begriff sich selbst als antibürgerliche Kunst. Mit dem Spießer wurde recht grob umgegangen. Er diente immer wieder als Typus von dem der Künstler sich abgrenzen wollte. In einer kleinen Reihe will ich versuchen, den expressionistischen Blick auf den Spießbürger, aber auch den bürgerlichen Blick auf die Expressionisten, darzustellen.

Wer mit dem Schrei beginnt, kann eigentlich nur mit Jakob van Hoddis‘ Gedicht Weltende weitermachen. Ohne Frage, es ist das berühmteste Gedicht des deutschen Expressionismus:

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei,
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.


Jakob van Hoddis, eigentlich Hans Davidsohn aus einem jüdischen bürgerlichen Elternhaus, veröffentlichte das Gedicht 1911 und wurde augenblicklich berühmt. Der kleine Text eröffnet auch die Sammlung expressionistischer Gedichte mit dem Titel Die Menschheitsdämmerung, die bis heute hunderttausendfach verkauft wurde. Da kann der Dichter nur staunen, der sein gebundenes Lyrikbändchen mit Goldschnitt zu 300 Stück unters Volk bringt.

 Jakob van Hoddis 1910, Urheber unbekannt, Quelle: Wikimedia

Das Weltende kommt bei van Hoddis ironisch daher. Da fliegt dem Bürger der Hut vom Kopf. Und so geht es weiter. Ein #Weltende bei Twitter könnte ähnlich zusammenhangslose, banale Sätze provozieren: Dachdecker abgestürzt und entzweigegangen. Weltende und jetzt auch noch Schnupfen. – Das Weltende fände in den Medien statt, damals in den Zeitungen, heute in den sozialen Netzwerken. Und es geht fast im täglichen Medienrauschen unter. Na ja, Weltende, da fliegt mir doch der Hut vom Kopf.

Vom spitzen Kopf. Der spitze Kopf kommt zum Vorschein, wenn der Hut hinuntergeflogen ist. Das sieht dann lächerlich aus. Das erinnert an die Pickelhaube, also der spitze Kopf, da ist dem Bürger das Preußische, Soldatische in die Kopfform übergegangen. Der Klang ist auch verräterisch: Vom spitzen Bürger ist es nicht weit zum spießigen.

Da steht er also, der Spießbürger, ohne Hut, verschnupft, und liest vom Sturm an den Küsten. Das ist sein Weltende. Sogar das Weltende wird beim Bürger kleinkariert, so ließe sich sagen. Und fast möchte man hinzufügen: Ach, Flüchtlinge ertrinken vor Lampedusa; Daten der Deutschen werden flächendeckend überwacht – ja, und der Merkel fliegt der Hut vom Kopf. 

Quellen: Jakob van Hoddis: Weltende, in: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Hamburg 1974 (zuerst 1919).

Hier klicken, um zum zweiten Teil zu gelangen.

2 Kommentare:

  1. Da eben liegt das Problem: Im Altern der Moderne wie es bei Adorno heißt. Das einstmals Avancierte gerät zum Klassiker, entschärft sich.

    Das Hoddis-Gedicht hat aber nach wie vor Sound, Kraft, Ausdruck und es trifft sehr genau. Ebenso die Bilder von Munch. Immer wieder muß man neu hinschauen bei diesen Werken und der Blick lockt Neues hervor. Insbesondere beim Hoddis-Gedicht.

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  2. Ja, das ist ein wichtiger Punkt: Das Rebellische verliert sich. Da ist es dann auch eine Frage der Literaturvermittlung, die die "Schärfe" wieder hervorkitzeln muss. Das geht z.B. in der Schule oft daneben. Das 'Ranschmeißerische', wie ich es oben auch mit dem Twitter-Vergleich gemacht habe, ließe sich ja auch kritisieren. "Das sind eben keine Twitter-Sätze, sondern Verse", höre ich meinen ehemaligen Literatur-Professor sagen (der Twitter vermutlich gar nicht kennt). Wer jedoch allein auf die historische Situation setzt, wird die Wucht eines Textes auch nicht unbedingt wieder zum Leben erwecken können.

    Aber ich stimme voll zu: Bei van Hoddis geht es noch gut. Die Ironie versteht man. Die lakonische Kürze wirkt noch gar nicht verbraucht.

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