Klawdia Wessely steht auf dem Dach eines Hauses in Berlin, sie bewegt sich an den Rand, greift nach Ihrer Geige und beginnt zu spielen. So beginnt die Erzählung „Fiedlerin auf dem Dach“ und der Text geht nach diesem Einstieg, der die Frage offenlässt, ob Klawdia vom Dach springen wird, fünf Monate zurück und erzählt, was bis dahin geschah.
Die Geschichte
greift nur wenige Jahre in die Vergangenheit zurück, in das Jahr 1999, und doch
wirkt der Text wie ein Roman über längst vergangene Zeiten. Was hatten die
Menschlein damals für Probleme, kannten keinen IS, nicht einmal Al-Kaida, keine
Ukraine-Krise und konnten noch im Kopf den Euro in D-Mark umrechnen. Der Text
wirkt fern, auch weil er eine kasachische Einwandererfamilie bei ihrer
Einwanderung beobachtet und dieser Familie nahe ist, aber nicht dem Berlin der
späten 1990er Jahre. Zugleich ließen sich jederzeit Linien zu unseren Problemen
hinüberziehen: Einwanderung, Rechtsradikalismus, Ghetto-Bildung. Aber all das,
so mein Eindruck, liegt zwar im Horizont des Textes, aber der kümmert sich
nicht besonders darum, weil sich seine Hauptfiguren nicht besonders darum
kümmern. Dann geht die kasachische Einwanderin eben mit dem Neo-Nazi „Odin“ ins
Bett, es ist ja ihr Leben, möchte ich fast sagen.
Die Erzählung
zeichnet dabei ein besonderer Hang zum Realismus aus. Realistische Literatur,
die, so wollte das schon Aristoteles, „wahrscheinlich“ ist, liegt im Trend. Die
meisten Romane sind realistisch erzählte Romane, sie möchten, dass der Leser
die Geschichte „glaubt“, sie „abnimmt“. Ich nenne es einen besonderen Hang zum
Realismus, weil Saalmann ein paar Kniffe anwendet, um seine
Einwanderergeschichte besonders glaubwürdig zu machen. Er verwendet an einigen
(sehr wenigen) Stellen russische oder kasachische Wendungen, ich kann das nicht
prüfen, sie sind in kyrillischen Buchstaben gesetzt. Ich darf mich dabei zu denjenigen
Lesern zählen, die nicht einen einzigen kyrillischen Buchstaben lesen können,
das spielt aber keine Rolle, denn es geht um ein Gefühl von Fremdheit, das sich
auf diese Weise vermittelt, wie in einem Film manchmal Figuren auftauchen, die
eine fremde Sprache sprechen, die weder übersetzt, noch untertitelt wird. Doch
im Film hat man die Bilder, hier stehen allein fremde Buchstaben auf dem Papier
herum, die ich nicht kenne, zu denen ich keinen Zugang habe. Das passt nur
allzu gut zu einem Roman, der eine Einwanderung behandelt.
Im Gegenzug
erfahre ich immer wieder, wie Klawdia sich deutsche Worte und Redewendungen
notiert, mitsamt kurzen Erläuterungen, zum Beispiel: „Der Scheiß (Männliche
Form von die Scheiße)“ oder: „Zustimmung: Auf jeden, Alter! Auf gar keinen!“ Diese
Notizen sind eingelegt in den Romantext, der nicht in Ich-Form erzählt, sondern
einen Erzähler beherbergt, der genau weiß, wie er die Gegebenheiten arrangieren
muss, um die Spannung langsam und stetig zu steigern. So weit, so gut der
Roman.
„Die Fiedlerin
auf dem Dach“ ist bei dem Allerkleinstverlag „Eichenspinner“ erschienen. Und
mich interessiert – nicht erst seit dem Sundermeier-Interview – die Frage, was
eigentlich die Texte kleiner Verlage von den Texten großer Verlage
unterscheidet. Veröffentlichen die Independent-Verlage eigentlich eine „andere“
Literatur als die großen? Oder sind die nur zufällig klein geblieben, weil
gerade nicht mehr Leser zur Hand waren? Bei dem klugen Blog „Aisthesis“ kommentierte ich etwas naiv vor kurzem in einem etwas anderen Zusammenhang: „Und wer zu
einem guten ‚Indie-Buch‘ gegriffen hat, wird am Ende vielleicht in seinen Blog
schreiben, das Buch hätte genauso gut bei Hanser verlegt werden können. Das war
ja gar nicht schlechter.“
Könnte ich
jetzt in meinen Blog schreiben. Die „Fiedlerin“ hätte Hanser veröffentlichen
können. Eine Frage der literarischen Qualität ist das sicher nicht. Das trifft
ein Problem, das mich beschäftigt. Bei manchen Verlagen, zum Beispiel Nautilus,
liegt es auf der Hand, die machen was anderes, was die großen so nicht machen
können. Aber konkret zu Saalmann: Warum erscheint sein Roman nicht bei Hanser
oder Rowohlt? Inwiefern fällt der Text aus der Reihe? Diese Frage ist
wahrscheinlich falsch gestellt und falsch gedacht, allzu schematisch, als gäbe
es die Hanser-Literatur oder die Eichenspinner-Literatur. Und als ob die Größe irgendetwas aussagte.
Die Fährte ist
aber nochmal richtig: Was zeichnet den Text aus? Und dann muss ich erneut die
merkwürdige Erzählhaltung ansprechen, die immer ganz eng bei Ihrer Hauptfigur
bleibt, in abgehackten Sätzen ihre sprunghaften Gedanken und Eindrücke nachahmt:
„Das
weltberühmte Brandenburger Tor. Der Potsdamer Platz. Tausend Kräne. Die
Siegessäule. Ein ruhiger Boulevard. Hartes Bremsen, eine freie Parkfläche.
„Aussteigen!“,
ruft Marja Petrowna. „Kurfürstendamm rechts, zwei Stunden! Zusammenbleiben, die
verehrten Damen nicht dauernd vor Staunen ‚Oi!‘ schreien, am besten, überhaupt
nicht laut sprechen! Nicht in Weinen ausbrechen! Nerven behalten!““
Zugleich ist
der Erzähler weit weg, als berichtete er aus großer Distanz, arrangiert er
kunstvoll die Ereignisse in seinem Text. So sind der Einstieg zu verstehen, der
das Ende des Buches vorwegnimmt, oder manch eine urteilende Aussage oder die
Kapitelüberschriften, die andeuten, was geschehen wird. Und so folgt man
Klawdia mit Vergnügen, weder unter- noch überfordert, in eine bemerkenswerte
Geschichte, in der sie – und so soll das ja auch sein – der Liebe, dem Tod, dem
Geld und der Kunst begegnet.
Günter Saalmann: Fiedlerin
auf dem Dach, Eichenspinner 2014.
Klarstellung: Ich bin mit
dem Verleger, Lutz Graner, persönlich bekannt. Den Autor, Günter Saalmann,
kenne ich nicht. Das Buch habe ich im Buchhandel erworben.
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