In einem Sandkasten gilt die soziale Auslese nicht. Kleine Kinder wissen noch nicht, was Marken sind, da sind die falschen Spiderman-Leuchte-Schuhe auf einmal der Hingucker. Es ist ihnen gleichgültig, ob die Verben richtig konjugiert werden. Sie achten nicht darauf, welche Felgen der Kinderwagen hat.
Alles ganz
falsch. Natürlich, der Sandkasten wird von den Eltern gut gewählt. Der
Sandkasten in der zuverlässig gentrifizierten Gegend ist immer eine gute Wahl. Um
die soziale Auslese kümmern sich also die Erziehungsberechtigten. Und sie
schreiten ja auch ein, wenn ihren Schützlingen etwas zuzustoßen droht, wie
jetzt gerade, da springt der Mann, kurze Jeanshose, Boss Poloshirt, auf: „Nicht
unten an der Rutsche stehenbleiben, Ferdinand. Sieh mal, die großen Kinder
rasen da ganz rücksichtslos hinunter. Das ist ein Höllentempo. Mach immer
gleich die Rutschbahn frei und geh zwei oder drei Schritte weg.“ Ferdinand
sieht seinen Vater mit großen Augen an. Der redet weiter: „Die rufen auch gar
nicht, ‚Bahn frei‘, das habe ich dir ja immer gesagt. Ruf ‚Bahn frei‘ und
rutsch nicht einfach los. Das ist ganz wichtig, ja? Und immer schauen, du musst
immer schauen, ob die Bahn dann frei ist. Und so schnell musst du auch nicht
rutschen.“ Ferdinand ist nun die Lust am Rutschen vergangen, er läuft zur
Schaukel, um sich anderen Gefahren auszusetzen.
Die soziale
Auslese eines öffentlichen Spielplatzes funktioniert unzureichend. Zu viele Kinder
schlüpfen durch die Maschen des sozialen Netzes, die Eltern wählen einen
Spielplatz außerhalb des eigenen zugewiesenen Siedlungsbereichs. „Romeo!“ höre
ich eine Mutter, „Romeo!“ Sie ruft immer wieder: „Romeo, komm da runter!“ Sie
sitzt, wie ich, auf dem Rand des Sandkastens, Romeo, keine zwei Jahre alt, ist
auf einen kleinen Felsbrocken geklettert, es ist tatsächlich hoch für einen so
unerfahrenen Kletterer. Er kommt nicht weiter nach oben, im Überhang ist er
ungeübt, er will nicht umkehren, Sportlerehrgeiz. „Romeo, komm da runter!“ ruft
wieder die Mutter. „Romeo komm da runter! John-Claude, hol mal Romeo da runter!“
Romeo ist schnell gerettet, Ferdinands Vater zuckt mit den Achseln.
Ich schaue
mich um, sehe die weißen Brüste einer vierzigjährigen Sozialpädagogin, ein
Säugling macht sich daran zu schaffen. Dann gibt es Aufregung an der Schaukel.
Ferdinand steht am Rand, sein Vater hinter ihm. Ein anderer Vater, unrasierter Medientyp,
schimpft mit seiner Tochter: „Jetzt komm! Andere wollen auch mal schaukeln. Du
schaukelst nun eine ganze Weile. Du musst andere ranlassen. Jetzt ist der
nächste dran. Du willst ja auch nicht so lange warten?“ „Doch“, antwortet die
Tochter. „Nein, willst du nicht. Du freust dich auch, wenn du nicht lange
warten musst, sondern ein Kind für dich Platz macht!“ „Nein!“ widerspricht die
Tochter. Er redet weiter auf sie ein. Ferdinands Vater sagt zu seinem Sohn: „Geh
doch zur Rutsche zurück, du kannst später schaukeln, das Mädchen will jetzt noch
nicht die Schaukel freimachen.“ „Genau“, sagt das Mädchen. „Nein“, sagt der
Vater des Mädchens, „du darfst schaukeln! Renata macht gleich die Schaukel frei.
Sie hat lang genug geschaukelt. Ja? Renata?!“ Das Mädchen nimmt immer mehr
Schwung, ihr Vater muss zurückweichen, Ferdinand beginnt zu weinen. „So, genau,
nimm noch einmal Schwung, schaukel noch einmal ganz hoch, und dann kommst du
herunter!“ „Mach ich gar nicht!“ ruft das Mädchen.
Ich kann nicht
länger zusehen, denn nun muss ich aufspringen. Luisa, meine Tochter, hat einem
anderen Kind vermeintlich Sand in die Augen geworfen. So lautet jedenfalls der
Vorwurf. Ein anderes Mädchen sitzt im Sandkasten und brüllt. Vollkommen
übertrieben, denke ich. Es ist nur Sand, und sicherlich nicht in die Augen. Das
macht Luisa nicht. Die Mutter des Mädchens ist wütend: „Das darf ja nicht wahr
sein! Einfach Sand in die Augen! Mit voller Absicht!“ „Wirklich, Luisa, stimmt
das?“ Meine Tochter schweigt. Ich weiß ohnehin, dass sie absichtlich in die
Augen gar keinen Sand geworfen haben kann. Absichtlich auf das andere Kind, das
mag noch angehen. Aber die Augen können, sofern es überhaupt wahr ist, nur ein
unglücklicher Treffer, ein Unfall gewesen sein.
Ich sage: „Was
ist denn passiert? Entschuldige dich mal, Luisa! Aber was ist denn vorher
passiert?“ „Vorher“, die Mutter schreit nahezu, „wieso vorher? Sand!
Absichtlich in die Augen! Eine ganze Handvoll!“ Ich bemerke, jetzt selbst ein
wenig ungehalten: „Eine Handvoll nun nicht gerade, wie soll man denn eine
Handvoll Sand in die Augen werfen? Ein bisschen Sand allerhöchstens. Und es tut
ihr ja leid, das sehen sie ja.“ Weder Kind noch Mutter beruhigen sich. Die
Mutter sagt: „Das ist echt ein asoziales Verhalten! Ich würde mich schämen!“ Ich
bücke mich und nehme eine Handvoll Sand. Ich werfe der Mutter den Sand ins
Gesicht. Eine ganze Handvoll. Das ist sehr viel, denke ich. Ich stelle mir
Luisas kleine Hände vor, die nicht die Hälfte Sand aufnehmen können. Es könnte
doch wahr gewesen sein, denke ich. Die Mutter, endlich still, reibt sich den
Sand aus den Augen. Auch ihre Tochter ist leise geworden. „Du bist ein
schlechtes Vorbild“, sage ich zu Luisa.
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