Montag, 7. März 2016

Zum Tod von Karl Dedecius

Fast hätte diese Nachricht mich gar nicht erreicht, obwohl mich viele, allzu viele Nachrichten erreichen. Aber an Karl Dedecius, den großen Übersetzer und Vermittler polnischer Literatur, hatte ich gar nicht gedacht, als er am 26. Februar verstarb, und ich an diesem Tag ein Buch von Zbigniew Herbert wieder einmal zur Hand nahm, das Dedecius herausgegeben hat. Ich dachte an Herbert, den Autor, sein Übersetzer kam mir in diesem Moment nicht in den Sinn.

Ich zitiere aus Dedecius' Übertragungen der Gedichte von Zbigniew Herbert:

"Botanischer Garten

Das ist ein pflanzenpensionat, geführt sehr streng wie eine klosterschule. Gräser, bäume und blumen wachsen mit anstand, ohne vegetative üppigkeit, und hüten sich vor dem verbotenen liebesspiel mit den hummeln. Sie sind stets befangen ob ihrer lateinischen würde und weil sie beispiel sein müssen. Sogar die rosen verschnüren ihren mund. Sie träumen vom herbarium.
Greise kommen hierher mit büchern und nicken ein beim schläfrigen ticken der sonnenuhren."

Aus: Zbigniew Herbert: Inschrift. Gedichte aus zehn Jahren, hg. und übertr. von Karl Dedecius, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967.

Dienstag, 26. Januar 2016

Die Fakten, die Fakten, die Fakten


Ende Januar frage ich mich: Darf man über Köln nicht schreiben? Also wenn man schon schreibt in 2016, muss das nicht Köln sein? Oder die Flüchtlinge? Oder beides? Das Thema kühlt einfach nicht herunter, zu viele Menschen haben ein Interesse daran, dass das Thema ein Thema bleibt. Und auch darüber ließe sich schreiben, medienkritisch, da kann man immerhin sicher sein, stets auf der richtigen Seite zu stehen.

Ich allerdings enthalte mich hier und verweise, wie großartig, auf Wikipedia. Ein Ereignis, das bereits im Lexikon abgelegt ist, darf ich hier ruhen lassen. Wer etwas darüber wissen möchte, sehe eben auf Wikipedia nach. Ich zitiere gerne den ersten Absatz des entsprechenden Artikels:

„In der Silvesternacht 2015/2016 kam es in Köln im Bereich Hauptbahnhof-Kölner Dom zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanisch/arabischen Raum. In vielen Fällen wurden sowohl Sexual- als auch Eigentumsdelikte und Körperverletzungsdelikte verübt. Aus weiteren deutschen und europäischen Städten wurden ähnliche Vorfälle berichtet. Die Übergriffe erfuhren große nationale und internationale Beachtung.“

Steht also alles im Lexikon. Damit bin ich jeder Verantwortung enthoben, Zitat und fertig. Danke, ihr Wikis!

Ich benutze Wikipedia nahezu jeden Tag, und es ist ja keine Frage: Wikipedia ist die Hoffnung, dass das Netz überhaupt irgendetwas Gutes gebracht hat – neben einer Liste mit den zehn lustigsten Frisörsalonnamen, die wirklich sehr witzig sind, Haarlekin, also wirklich. Deshalb nichts gegen Wikipedia. Aber als ich vor kurzer Zeit ein paar Kinderbücher in die Hände bekam, bemerkte ich, wie sehr Wikipedia auch für ein Symptom der Zeit steht, das mich nachdenklich macht.

Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie zählt zu den bekanntesten Kinderbuchautoren Deutschlands. Ich kenne bei weitem nicht alles, was sie geschrieben hat, aber ihre frühen Reihen („Linnea“ oder „King-Kong“) halte ich für sehr gelungen. Ganz nebenbei bindet Boie die familiären Dramen, wie Scheidung, Krankheit, Geldnot, in ihre Texte ein. Das ist genau beobachtet und sehr sicher erzählt. Nun hatte ich ihre letzten Bestseller in den Händen, „Seeräubermoses“ und den „Ritter Trenk“. Man erkennt die Autorin kaum wieder.

Trenk ist eigentlich ein Bauernsohn, der versehentlich auf einer Burg aufgenommen wird, er soll jetzt Ritter werden. Thekla, die Tochter der Burgherren und Trenks Freundin, weiß als einzige von Trenks Herkunft. In abenteuerlichen Episoden besiegt Thekla beispielsweise mit ihrer Schleuder eine ganze Räuberbande, immer schön vor den Kopf geschossen, bis alle in Ohnmacht gefallen sind. Die Räuber, die dann langsam erwachen, wollen nun keine Räuber mehr sein. Sie haben offenbar eine einigermaßen linke Erziehung genossen, genau wie der Burgherr, der weiß, die armen Kerle sind nur aus der Not Räuber geworden. Also bekommen sie Arbeit auf der Burg: Zufällig wird ein Koch benötigt, und zufällig kocht einer der Räuber auf dem Niveau eines durchschnittlichen Fernsehkochs, also wird er eingestellt. Die anderen Räuber werden Wachen, die ebenfalls gerade dringend auf der Burg benötigt werden. Etc. Die Handlungsführung wirkt für einen mittelalterlichen Roman also an einigen Stellen unwahrscheinlich. Und noch mehr die Figuren, die im Mittelalter bereits Probleme des 21. Jahrhunderts zu bewältigen haben, keine kleine Herausforderung für ein Mädchen damals mit Fragen der Emanzipation befasst zu sein.

Ist ja nicht weiter schlimm, könnte man einwenden. Schlechte historische Romane für Erwachsene machen genau das gleiche. Und je nach Vorliebe könnte man also nach dem „Ritter Trenk“ entweder direkt zur „Wanderhure“ oder zur „Päpstin“ greifen. Irritierend ist allerdings, dass der Roman ständig etwas erläutern möchte. Immer wieder Einwürfe wie „du weißt vielleicht nicht, dass“. Und dann folgen Erläuterungen über das Leben im Mittelalter, was Leibeigenschaft bedeutet oder was man im Mittelalter zu essen pflegte.

Das Setting soll also historisch „richtig“ sein. Genau die Dinge, könnte man etwas bösartig sagen, die bei Wikipedia nachzuschlagen sind, müssen im Roman unbedingt stimmen. Und ist das nicht toll: Die kleinen Leser sind direkt in ihrer Lebenswelt „abgeholt“ und sie lernen nebenbei sogar etwas über das Mittelalter. Oder anders formuliert: Die kleinen Leser bekommen ein totales Zerrbild der Geschichte und erfahren nichts darüber, dass Kinder einmal vor anderen Problemen standen – und stehen können – als sie selbst.

Verstehen muss man nichts und niemanden, wenn man die Fakten kennt. Und dass das großartige Wikipedia nur von ein paar Kinoverrückten ins Leben gerufen wurde, um wirklich jeden sachlichen Fehler in jedem Film nachweisen zu können, ist jedenfalls Fakt. Oder nicht.

Dienstag, 22. Dezember 2015

Weihnachtswünsche


Als Kind liebte ich die Tage vor Weihnachten. Die Wünsche wurden aus Katalogen und Zeitschriften herausgeschnitten, auf einem Papier sorgfältig collagiert und dieser bei den Eltern, mit freundlicher Bitte um Weitergabe an den Weihnachtsmann, eingereicht. Stilechte Wünsche selbstverständlich: Ein Abonnement des YPS-Magazins, eine Darda-Bahn, He-Man-Figuren und ein Kettcar. Nein, Unsinn, auch damals vor allem LEGO oder irgendetwas, das leuchtet, knattert und einer Waffe ähnlich sieht.

Diese Weihnachtswünsche waren jedenfalls äußerst lehrreich. Man lernte auszuwählen, zu warten, sich zu sehnen und schließlich die Enttäuschung. Die offensichtliche Enttäuschung, das Gewünschte nicht zu bekommen, ist dabei leicht zu verstehen und zu akzeptieren. Viel schwieriger, wenn der Wunsch in Erfüllung ging und das gewünschte LEGO-Piratenschiff genauso war, wie im Katalog beschrieben, nur an die Phantasie, die wochenlang schon Kaperfahrten unternommen hatte, reichte es leider nicht heran. Die Wirklichkeit ist immer eine Enttäuschung, und der kindliche Satz – ich wünsche mir nur noch dieses eine Piratenschiff, dann wünsche ich mir nie wieder etwas – entspricht nicht vollständig der Lebenserfahrung der meisten Eltern.

Unser Leben mit Wunsch, Sehnsucht und Enttäuschung wird jedenfalls gerade gründlich optimiert. Dass Werbung die Wünsche erzeugen möchte, die wir uns dann von den beworbenen Produkten erfüllen lassen, ist zum einen so irgendwie altbekannt, zum anderen auch viel zu einseitig. Wenn ich nächtelang den LEGO-Katalog studierte, konnte ich diese Werbung kreativ nutzen und mich gleichzeitig schlauer fühlen als die Marketingabteilung, wenn ich mir stattdessen eine Eisenbahn wünschte. Nun haben die Marketingabteilungen dazugelernt, wie man zum Beispiel in dem Buch von Markus Morgenroth „Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!“ nachlesen kann. Das meiste, was er darstellt, ist bekannt, und vieles auch in der dargestellten Tiefe bekannt. Allerdings ist es in dieser Fülle ein beeindruckendes Bild der großen Datenkraken, das Morgenroth zeichnet. Nur die Fähigkeit, einmal zurückzutreten, von seiner beeindruckenden Sammlung vom Wissen über die Wissenssammler, und zu theoretisieren, besitzt Morgenroth bedauerlicherweise nicht. Denn vor allem würde  man ja gerne erfahren, was das mit dem Menschen macht, wenn er so vermessen wird.

Vor wenigen Jahren noch mussten die Wichtel der Weihnachtsmanufaktur in Himmelspfort jedenfalls in jedem Sommer ein Markt- und Meinungsforschungsinstitut beauftragen, um nicht versehentlich zu viele Holzeisenbahnen herzustellen, für die sich am Ende niemand interessiert. Heute geschieht die Marktforschung direkt, während wir uns im Netz bewegen, ganz ohne unser Einverständnis werden wir ausgewertet. Die Köchin Sarah Wiener hatte jüngst den Blick darauf gelenkt, wie großartig eine Marketingkampagne aus lange belächeltem Fleischersatz ein neuen Trend schaffen kann: Die gewöhnliche Cervelatwurst muss man ja mittlerweile im Supermarkt, versteckt hinter den Regalen mit Sojasteaks und Blaubeerblutwurstersatz, suchen.

Man kann also auch nicht einfach aus dem System heraustreten – was ebenfalls nicht die neueste Erkenntnis ist, wie mir scheint. Neu ist allerdings, dass dies nicht theoretisch für „alle“ gilt, sondern für „jeden“. Dass der Weihnachtsmann sich mit so einem absoluten, totalitären Marketing gemein macht, mag ich kaum glauben, und blättere noch einmal durch die LEGO-Kataloge meiner Kindheit, die ich aufbewahrt habe, und die in einem besseren Zustand sind als die Spielzeuge selbst.

Markus Morgenroth: "Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!" Über die wahre Macht der Datensammler, München: Droemer 2014.

Montag, 9. November 2015

Deutschland, Deutschland

Fußball ist großartig, großartigst, größtartigst. Man kann überhaupt nur in supersten Superlativen über Fußball sprechen. Dass da jetzt Geld geflossen sein soll, wo es nicht fließen sollte – aber so ist das mit Flüssigkeiten eben, ob nun Geld fließt oder der Flüchtlingsstrom, die fließen nun mal –, pfff, das interessiert mich nicht. Ich lass mir mein Sommermärchen nicht verderben von irgendwelchen schwärzlichen Kassen. Ich hab meine Deutschlandfahne selbst bezahlt. Und die Quittung habe ich hier abgelegt, besondere Ausgaben.

Fußball ist die neue Politik. Lehrte man früher in Frankfurt politische Theorie, lehrt man heute Fußball-Philosophie. Man geht mit „Nietzsche ins Stadion“, lernt vor dem Spiel systemische Aspekte des Fußballs und vertieft sich in die Motivationspsychologie in der Kabine. Sollen die doch lieber Fußball spielen, statt sich in echt den Arsch vollzubomben. Auch der Bombenschuss ist harmlos. Alles harmlos. Da dürfen ja seit zehn Jahren wieder deutsche Fahnen wehen, weil hier gehört er hin, der Patriotismus, wo er nichts tun kann, wo im allerschlimmsten Fall der Fälle nach dem Länderspiel der provokant am Baguette knuspernde Franzose eine Bierflasche an den Kopf bekommt, aber dann stehen da schon Ordner, die trösten. Wer samstags ab halb vier anderthalb Stunden lang Fahnen schwenkt, Bier säuft und „Borussia, Borussia“ brüllt, ist am Montag Abend noch viel zu heiser, wenn die PEGIDA-Kundgebung stattfindet. Fußball ist großartig.

Ich durfte nun das Fußball-Museum in Dortmund besuchen. Fußball ist Kunst, ist Leben, ist Philosophie, ist Religion. Ein Museum ist absolut notwendig, um sich über den entscheidenden Teil deutscher Geschichte gesellschaftlich verständigen zu können. Und zum Glück ist Fußball so harmlos, musste ich schon zum ersten Mal denken, als ich am Spind stehend – ich verstaute gerade Kutte, Fahne und Sechserträger – die deutsche Nationalhymne hörte. 
 
So häufig habe ich überhaupt selten an einem einzigen Tag Teile der deutschen Nationalhymne vernommen, gegen die ich, das möchte ich festhalten, nichts einzuwenden habe. Es fiel mir dennoch auf. 
 
Auch gegen pathetische Musik und große Momente auf großen Leinwänden habe ich nichts einzuwenden. Die deutsche Geschichte muss wohl in dieser Größe präsentiert werden. Und ich gebe gerne zu, das ich für diese Stimmungen allzu empfänglich bin, Schweinsteigers Blut im Endspiel, als habe er für uns gelitten. 
 
Schön wäre es gewesen, wenn das Museum nach diesen Bedeutungen des Fußballs in irgendeiner Weise gefragt hätte, statt sie noch einmal zu inszenieren. Schön wäre es auch gewesen, die winzigen problematischen Punkte, eigentlich Pünktchen oder Pünktelchen, in angemessener Weise darzustellen: War da was in den späten 1930er Jahren? Natürlich, haben wir auf einer kleinen Tafel hinten an der Wand, steht alles drauf, Hitler, Nationalsozialismus, einfach alles. Oder man zeigt einfach die Trophäen, die Helden, die großen Momente in unseren vier großen Jahren, während im Hintergrund die Nationalhymne dudelt. So simpel kann Museum sein. 
 
Fast hatte ich den Eindruck, es wird in Zukunft ausreichen, die ankommenden syrischen Flüchtlinge jeweils in einen Deutschkurs und in unser Fußballmuseum zu stecken. Mehr deutsche Integration geht überhaupt nicht.

Schlecht gemacht ist das Museum wirklich nicht, das kann ich nicht sagen. Aber dass ich mir am Abend nach dem Besuch die deutsche Verdrießlichkeit zurückwünschte, das fand ich überraschend.

Freitag, 9. Oktober 2015

Meine Meinung zur Meinung

Niklas Luhmann meinte, der Zweck der Kommunikation ist ihre Fortsetzung. Wer das nicht glaubt und noch immer irrwitzigerweise beispielsweise den Zweck eines Arguments darin sieht, dass es überzeugt, der sehe sich im Netz um. Das Internet wurde einzig mit dem Ziel gebaut, Luhmanns Theorie der Kommunikation zu beweisen. Und es beweist.

Ich bin vielleicht gerade etwas Blogumschau-müde, das Problem fiel uns allerdings immer wieder auf und mal konnten wir etwas dagegen tun, mal gelang das nicht: Ich schrieb zum Beispiel über die Berichterstattung über die Fußballweltmeisterschaft 2014. Also genauer, das eigentliche Ereignis: Da spielten echte Männer, kleinere Jungens und ein paar Werbefiguren Fußball und ein paar Brasilianerinnen tanzten im Hintergrund Samba, was sie offenbar immer tun. Darüber berichteten Journalisten und Reporter, die vor Ort Fußball und Samba beobachteten. Über die Berichterstattung berichteten Blogger, die sich über zu viel Samba und zu wenig Fußball ärgerten. Über diese Blogger berichtete die Blogumschau, die von Fußballer- und Tänzerinnenschweiß drei Meta und sehr viele Kilometer entfernt war.

Die Position eines Beobachters der Beobachter, die kann ja auch originell sein. Sie ist aber mittlerweile die typischste Internetsprecherposition. Der allergewöhnlichste Fall, am Beispiel des literarischen Quartetts: Autoren schreiben Bücher über die im Fernsehen diskutiert wird. Die Fernsehdiskussion wird in den Zeitungen breit besprochen. In den Blogs wird wahlweise die Fernsehsendung oder die Fernsehsendungsberichterstattung besprochen. Und die Blogartikel werden wiederum kommentiert. Und der Klassiker der Kommentare lautet dann ungefähr so: „Ranicki ist sowieso unerreichbar, von Literatur haben die in den klassischen Medien gar keine Ahnung mehr. Das ist alles nur noch Marketing. Ich habe die Sendung deshalb gar nicht erst gesehen!“

Es fällt nicht einmal mehr auf, dass die Kommentare keinen Bezug zum eigentlichen Ereignis haben, also zur Fernsehsendung (die Bücher hat selbstverständlich ohnehin niemand gelesen, der sich über die Sendung auslässt). Im Laufe der Kommentare der Kommentare der Kommentare hat sich der Gegenstand längst aufgelöst, es bleibt ein bisschen Meinung zurück, die die Kommunikationsdampfmaschine am Laufen hält.

Oder Amazon: Ein Buch, eine Rezension zum Buch, ein Kommentar zur Rezension zum Buch, eine Bewertung des Kommentars zur Rezension zum Buch. Neben Luhmann wusste Kafka natürlich auch, was da mit dem Internet auf uns zukommt. Im „Proceß“ führt er vor, wie eine Geschichte sich auflöst in ihre Kommentare. Medienkritik, so scheint es mir manchmal seitdem die Kritik an der Ukraine-Berichterstattung abgeflaut ist, Medienkritik ist das langweiligste, was man überhaupt betreiben kann. Ja, auch dieser Text fällt dann selbstverständlich darunter: redundant, langweilig, überflüssig. Wenn überall zu Kommentar und Spritzgebäck geladen wird, ist die Metahaltung keine Kunst mehr. Schweigen müsste man können.


Zu Luhmann vor allem: Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation?, in: Soziologische Aufklärung Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, 3. Aufl., Wiesbaden 2008.
Und Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.



Dienstag, 29. September 2015

Das Überstflüssige

Die Beobachtung ist nicht besonders originell: Im Internet kann jeder seinen Senf zu jedem Würstchen dazugeben. Alle Dinge, so scheint es, sinken im Netz zum reinen Gesprächsanlass herab. Sie sind nur noch dafür da, eine Meinung äußern zu können. Und wenn ich solche Aussagen hier nun gleich wiederhole, wiederhole ich das Unnötige, das Überflüssige, das Un-un-unbrauchbare. 
 
Ich lese Thomas Mann nicht gerne. Den „Zauberberg“ zum Beispiel mag ich nicht. In Gesprächen habe ich das auch dem einen oder anderen mitgeteilt – ob das jemanden interessiert hat, weiß ich nicht, die gerunzelten Stirnen sind vergessen. Darüber schreiben würde ich allerdings nicht, wenn ich es nicht gerade getan hätte. Meine persönliche kleine Antipathie, wofür soll die gut sein? Mich hat auch keiner danach gefragt. 
 
Ach so, stimmt nicht, denn Amazon fragt mich. Da könnte ich also auf die Idee kommen, dass das irgendjemanden interessiert, was ich zu einem Klassiker der Weltliteratur meine – in dem Wissen, dass meine Meinung so jedenfalls nur eine Meinung ist und ich vielleicht auch nicht der Literaturkritik letzten Schluss über Manns Romane äußere, wenn ich rachegewillt, nach einem langweiligen Abend, der mit seinem Buch endete, Herrn Mann mit einem Sternchen abstrafe.

Oder mit „Loewendoros“ Worten: Was am "Zauberberg" aber verzaubern soll, kann ich nicht verstehen. Und wenn ich mich mit einem Buch rumquäle, wo es soviele Bücher gibt, die lesenswert sind, ist mir meine Zeit dann doch zu schade, um sie mit Hans Castorps Fieberkurve zu verbringen.
Ich hoffe nur, ich komme deshalb nicht ins Literaturfegefeuer!“

Über das „Literaturfegefeuer“ weiß ich nichts, aber wenn hier schon mal die geistlichen Autoritäten aufgerufen sind, zitiere ich gerne Jesus von Nazareth: „Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.“ Da kann man ja nur hoffen, dass anonyme Äußerungen im Netz nicht gemeint sind.

Denn was schreibt Kaddi Kattubi über Kafkas „Proceß“:
Zuerst dachte ich noch, es wäre doch genial, wenn Kafka dem Mann Josef K. am Ende eine Paranoia anhängt und sich alles nur aufgrund des Verfolgungswahns und geistiger Umnachtung ausgedacht hätte.
Dem war aber leider nicht so.“

Ahh, so hätte es also was werden können mit dem literarischen Durchbruch. Danke für den Hinweis, aber als hätte Kafka geahnt, dass der „Proceß“ nichts taugte, wollte er ihn doch eigentlich nie veröffentlichen, nicht wahr, Mazda: 
 
Lächerlich finde ich, dass viele Stellen so verwirrend sind, dass sie keiner eindeutig interpretieren kann. Teilweise fragt man sich, ob überhaupt der Autor selbst wusste, was er damit sagen will.

Die persönliche Einstellung von Kafka dieses Werk nie zu veröffentlichen, war daher, meiner Meinung nach,die Richtige.“

Andere Leser dagegen können dem „Proceß“ vielleicht noch etwas abgewinnen, aber Kafkas „Schloß“? Nun ja, nun ja, die durchaus differenzierte Ansicht von Da..Ko:

Alles in allem ein gutes Werk, dass man empfehlen kann, doch Kafka in "Höchstform" ist es leider nicht.“

Und wirklich jeder ist mal dran. Es gibt eine insgesamt gerechte Verteilung der überflüssigen, dummdreisten Urteile über alle Autoren von Rang. Tiecks „Hexensabbat“, das ich hier im Blog gerade so begeistert erwähnte, kann M. Stier leider nichts abgewinnen, obwohl er es sogar kostenlos auf seinem Kindle lesen durfte:

ich habe das Buch nach einer halben Seite vom Kindle geschmissen. Die Sätze sind teilweise eine halbe Seite lang und schwer nachzuvollziehen. Klar, dass das Buch kostenlos zum Runterladen ist!!!“

Dieses alte Zeug aber auch. Da ist man schon einmal bereit sich auf Texte, oder wie das heißt, einzulassen, ohne Bildchen, ohne Liedchen, ohne Drumherumchen. Und dann machen die es einem so schwierig, bekommen die einfachsten Handlungsmotivationen nicht auf die Kette, wie ein Kunde über den „Sandmann“ weiß:

der sandmann ist eine kurzgeschichte, die mich nicht vom hocker gerissen hat. nathanael beginnt leider zu spinnen und sich in eine holzpuppe zu verlieben, anstatt ein glückliches leben mit clara zu verbringen.“

Und natürlich ist es ein Missverständnis zu denken, solche Rezensionen sagten irgendetwas über die Literatur aus, über manches vielleicht, aber nicht über die Literatur, die hält nur her, als Gesprächsanlass, Druckablass, so jedenfalls verstehe ich, um damit zu schließen, sinex85: 

Nathan der Weise, ist wieder eines dieser Bücher, die ich persönlich niemals aus freien Stücken lesen würde. Es ist eines jener Werke, die man in meinen Augen missbraucht um angehende Abiturienten zu quälen :-( und ihnen die Lust am Lesen zu verderben.“
 
Nein, ich hatte ich gar nicht gefragt.

Donnerstag, 17. September 2015

Der Moment des Kippens

In manchen Momenten kann ich Politiker beneiden: den beruhigenden Blick auf Bundestagsdiäten beispielsweise, den stelle ich mir schön vor. Oder auch ein Forschungszentrum einzuweihen, am besten etwas löbliches: Erforschung jüdischer Gemeinden in Deutschland oder so; natürlich nicht eine umstrittene Forschung, wie Primaten nacheinander Shampoos und Hirnstöße verabreichen. Da würde ich dann meinen Altmaier schicken. Aber da gibt es durchaus schöne Momente in einem Politikerleben, wie ich es mir vorstelle.

In diesen Tagen allerdings möchte ich kein Politiker sein, da bin ich froh, weit weg von jeder Entscheidung zu sein, nichts mit Asylpolitik, Innerer Sicherheit, EU-Politik zu tun haben. Grenzkontrollen wurden eingeführt – aber was bedeutet das? Die Tragweite einzelner Entscheidungen ist derzeit überhaupt nicht abzusehen. Rückt Deutschland jetzt nach rechts, links, in die Mitte, zwischen die Stühle oder bleibt es auf dem Sonnendeck? Ein „Welcome“ im Bus treibt uns die Tränen in die Augen, brennende Flüchtlingsheime könnten das auch. Es geschieht zu viel in zu kurzer Zeit, das wir kaum einordnen können, das uns „bewegt“ und zur Solidarität treibt, aber dessen Folgen wir nicht verstehen.

Und mit einzelnen Meldungen werden immer wieder die großen Geschichten angerufen: Europa zerbricht! Rechtsradikalisten erstarken! Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts! Wer weiß denn schon, was passieren wird? Am Ende das Jüngste Gericht, aber bis dahin fließt noch viel Wasser am alten Arsch, dem Kölner Dom, vorbei. 
 
Ludwig Tieck hat vor 200 Jahren ein grandioses Buch geschrieben, über das man in diesen Tagen trefflich nachdenken kann. Es heißt „Der Hexensabbat“. Das Buch behandelt den historischen Beginn der Hexenprozesse in Europa. Hatte bis dahin die Kirche eher Ketzer auf die Folterbank gespannt, ging man nun dazu über Hexen zu verbrennen. Historische Romane haben das Problem, dass sie von der Geschichtsforschung überholt werden können – und mit Tiecks Roman ist das sicher geschehen. Er hält den intensiven Forschungen zu Hexenprozessen wohl kaum noch Stand. Aber das ist nicht mein Thema, und es schadet dem (damals exzellent recherchierten) Roman auch nicht.
Es geht um den historischen Moment des Kippens, wie man es nennen könnte. Wenn aus einer Gesellschaft, die sich gerade freut, dass die unsinnigen Ketzer-Prozesse vorbei sind, dass Vernunft einkehrt und die Städte mehr Freiheit haben, eine Gesellschaft des Hasses und der Angst wird, die erlebt, dass, wie in einer Lawine aus Ereignissen, genau das Gegenteil des Erhofften geschieht: Menschen werden wegen angeblicher Hexerei angeklagt und verurteilt.

Die Romanlektüre lässt sofort die alte Frage herausspringen: Wie konnte es soweit kommen? Die Schwierigkeit, die der Text großartig veranschaulicht, ist die der Gegenwärtigkeit. Solange alles gut geht, geht alles gut. Ging es immer; bis es eben nicht mehr ging. Denn wenn nicht, dann kann aus dem klugen, zurückhaltenden Abwarten das Verpassen der letzten Chance werden. Oder das beherzte Handeln beschleunigt nur einen fatalen Prozess, der im Gegenteil des Bezweckten mündet. Erst im Nachhinein macht sich der Literaturwissenschaftler dann über den Roman her oder der Historiker über die echten Hexenprozesse, jeder wie er kann und mag. Im „Jetzt“ können wir uns noch die lästige Wartezeit an der Grenze auf dem Weg in den Urlaub als Anekdote erzählen oder den lang geplanten Urlaub am Plattensee als kleines Abenteuer mit Blick auf echten Stacheldraht.

Man hatte in Arras gehört, dass jemand ein paar Städtchen weiter der Hexerei angeklagt wurde – wunderte sich und lachte.