Fast hätte diese Nachricht mich gar nicht erreicht, obwohl mich viele, allzu viele Nachrichten erreichen. Aber an Karl Dedecius, den großen Übersetzer und Vermittler polnischer Literatur, hatte ich gar nicht gedacht, als er am 26. Februar verstarb, und ich an diesem Tag ein Buch von Zbigniew Herbert wieder einmal zur Hand nahm, das Dedecius herausgegeben hat. Ich dachte an Herbert, den Autor, sein Übersetzer kam mir in diesem Moment nicht in den Sinn.
Ich zitiere aus Dedecius' Übertragungen der Gedichte von Zbigniew Herbert:
"Botanischer Garten
Das ist ein pflanzenpensionat, geführt sehr streng wie eine klosterschule. Gräser, bäume und blumen wachsen mit anstand, ohne vegetative üppigkeit, und hüten sich vor dem verbotenen liebesspiel mit den hummeln. Sie sind stets befangen ob ihrer lateinischen würde und weil sie beispiel sein müssen. Sogar die rosen verschnüren ihren mund. Sie träumen vom herbarium.
Greise kommen hierher mit büchern und nicken ein beim schläfrigen ticken der sonnenuhren."
Aus: Zbigniew Herbert: Inschrift. Gedichte aus zehn Jahren, hg. und übertr. von Karl Dedecius, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967.
vorm jägerzaun
Montag, 7. März 2016
Dienstag, 26. Januar 2016
Die Fakten, die Fakten, die Fakten
Ende Januar frage ich mich: Darf man über Köln nicht schreiben? Also wenn man schon schreibt in 2016, muss das nicht Köln sein? Oder die Flüchtlinge? Oder beides? Das Thema kühlt einfach nicht herunter, zu viele Menschen haben ein Interesse daran, dass das Thema ein Thema bleibt. Und auch darüber ließe sich schreiben, medienkritisch, da kann man immerhin sicher sein, stets auf der richtigen Seite zu stehen.
Ich allerdings enthalte
mich hier und verweise, wie großartig, auf Wikipedia. Ein Ereignis, das bereits
im Lexikon abgelegt ist, darf ich hier ruhen lassen. Wer etwas darüber wissen
möchte, sehe eben auf Wikipedia nach. Ich zitiere gerne den ersten Absatz des
entsprechenden Artikels:
„In der Silvesternacht
2015/2016 kam es in Köln im Bereich Hauptbahnhof-Kölner
Dom zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen durch Gruppen
junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanisch/arabischen Raum.
In vielen Fällen wurden sowohl Sexual-
als auch Eigentumsdelikte und Körperverletzungsdelikte verübt. Aus
weiteren deutschen und europäischen Städten wurden ähnliche Vorfälle berichtet.
Die Übergriffe erfuhren große nationale und internationale Beachtung.“
Steht also alles im
Lexikon. Damit bin ich jeder Verantwortung enthoben, Zitat und fertig. Danke,
ihr Wikis!
Ich benutze Wikipedia
nahezu jeden Tag, und es ist ja keine Frage: Wikipedia ist die Hoffnung, dass
das Netz überhaupt irgendetwas Gutes gebracht hat – neben einer Liste mit den
zehn lustigsten Frisörsalonnamen, die wirklich sehr witzig sind, Haarlekin,
also wirklich. Deshalb nichts gegen Wikipedia. Aber als ich vor kurzer Zeit ein
paar Kinderbücher in die Hände bekam, bemerkte ich, wie sehr Wikipedia auch für
ein Symptom der Zeit steht, das mich nachdenklich macht.
Die Kinderbuchautorin
Kirsten Boie zählt zu den bekanntesten Kinderbuchautoren Deutschlands. Ich
kenne bei weitem nicht alles, was sie geschrieben hat, aber ihre frühen Reihen
(„Linnea“ oder „King-Kong“) halte ich für sehr gelungen. Ganz nebenbei bindet Boie
die familiären Dramen, wie Scheidung, Krankheit, Geldnot, in ihre Texte ein.
Das ist genau beobachtet und sehr sicher erzählt. Nun hatte ich ihre letzten
Bestseller in den Händen, „Seeräubermoses“ und den „Ritter Trenk“. Man erkennt
die Autorin kaum wieder.
Trenk ist eigentlich
ein Bauernsohn, der versehentlich auf einer Burg aufgenommen wird, er soll
jetzt Ritter werden. Thekla, die Tochter der Burgherren und Trenks Freundin,
weiß als einzige von Trenks Herkunft. In abenteuerlichen Episoden besiegt
Thekla beispielsweise mit ihrer Schleuder eine ganze Räuberbande, immer schön
vor den Kopf geschossen, bis alle in Ohnmacht gefallen sind. Die Räuber, die
dann langsam erwachen, wollen nun keine Räuber mehr sein. Sie haben offenbar
eine einigermaßen linke Erziehung genossen, genau wie der Burgherr, der weiß, die
armen Kerle sind nur aus der Not Räuber geworden. Also bekommen sie Arbeit auf
der Burg: Zufällig wird ein Koch benötigt, und zufällig kocht einer der Räuber
auf dem Niveau eines durchschnittlichen Fernsehkochs, also wird er eingestellt.
Die anderen Räuber werden Wachen, die ebenfalls gerade dringend auf der Burg
benötigt werden. Etc. Die Handlungsführung wirkt für einen mittelalterlichen
Roman also an einigen Stellen unwahrscheinlich. Und noch mehr die Figuren, die
im Mittelalter bereits Probleme des 21. Jahrhunderts zu bewältigen haben, keine
kleine Herausforderung für ein Mädchen damals mit Fragen der Emanzipation
befasst zu sein.
Ist ja nicht weiter
schlimm, könnte man einwenden. Schlechte historische Romane für Erwachsene
machen genau das gleiche. Und je nach Vorliebe könnte man also nach dem „Ritter
Trenk“ entweder direkt zur „Wanderhure“ oder zur „Päpstin“ greifen. Irritierend
ist allerdings, dass der Roman ständig etwas erläutern möchte. Immer wieder
Einwürfe wie „du weißt vielleicht nicht, dass“. Und dann folgen Erläuterungen
über das Leben im Mittelalter, was Leibeigenschaft bedeutet oder was man im
Mittelalter zu essen pflegte.
Das Setting soll also
historisch „richtig“ sein. Genau die Dinge, könnte man etwas bösartig sagen,
die bei Wikipedia nachzuschlagen sind, müssen im Roman unbedingt stimmen. Und
ist das nicht toll: Die kleinen Leser sind direkt in ihrer Lebenswelt
„abgeholt“ und sie lernen nebenbei sogar etwas über das Mittelalter. Oder
anders formuliert: Die kleinen Leser bekommen ein totales Zerrbild der
Geschichte und erfahren nichts darüber, dass Kinder einmal vor anderen
Problemen standen – und stehen können – als sie selbst.
Verstehen muss man nichts
und niemanden, wenn man die Fakten kennt. Und dass das großartige Wikipedia nur von
ein paar Kinoverrückten ins Leben gerufen wurde, um wirklich jeden sachlichen
Fehler in jedem Film nachweisen zu können, ist jedenfalls Fakt. Oder nicht.
Dienstag, 22. Dezember 2015
Weihnachtswünsche
Als Kind liebte ich die Tage vor Weihnachten. Die Wünsche wurden aus Katalogen und Zeitschriften herausgeschnitten, auf einem Papier sorgfältig collagiert und dieser bei den Eltern, mit freundlicher Bitte um Weitergabe an den Weihnachtsmann, eingereicht. Stilechte Wünsche selbstverständlich: Ein Abonnement des YPS-Magazins, eine Darda-Bahn, He-Man-Figuren und ein Kettcar. Nein, Unsinn, auch damals vor allem LEGO oder irgendetwas, das leuchtet, knattert und einer Waffe ähnlich sieht.
Diese Weihnachtswünsche
waren jedenfalls äußerst lehrreich. Man lernte auszuwählen, zu warten, sich zu
sehnen und schließlich die Enttäuschung. Die offensichtliche Enttäuschung, das
Gewünschte nicht zu bekommen, ist dabei leicht zu verstehen und zu akzeptieren.
Viel schwieriger, wenn der Wunsch in Erfüllung ging und das gewünschte
LEGO-Piratenschiff genauso war, wie im Katalog beschrieben, nur an die
Phantasie, die wochenlang schon Kaperfahrten unternommen hatte, reichte es
leider nicht heran. Die Wirklichkeit ist immer eine Enttäuschung, und der
kindliche Satz – ich wünsche mir nur noch dieses eine Piratenschiff, dann
wünsche ich mir nie wieder etwas – entspricht nicht vollständig der
Lebenserfahrung der meisten Eltern.
Unser Leben mit Wunsch,
Sehnsucht und Enttäuschung wird jedenfalls gerade gründlich optimiert. Dass
Werbung die Wünsche erzeugen möchte, die wir uns dann von den beworbenen
Produkten erfüllen lassen, ist zum einen so irgendwie altbekannt, zum anderen
auch viel zu einseitig. Wenn ich nächtelang den LEGO-Katalog studierte, konnte
ich diese Werbung kreativ nutzen und mich gleichzeitig schlauer fühlen als die
Marketingabteilung, wenn ich mir stattdessen eine Eisenbahn wünschte. Nun haben
die Marketingabteilungen dazugelernt, wie man zum Beispiel in dem Buch von
Markus Morgenroth „Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!“ nachlesen
kann. Das meiste, was er darstellt, ist bekannt, und vieles auch in der dargestellten
Tiefe bekannt. Allerdings ist es in dieser Fülle ein beeindruckendes Bild der
großen Datenkraken, das Morgenroth zeichnet. Nur die Fähigkeit, einmal zurückzutreten,
von seiner beeindruckenden Sammlung vom Wissen über die Wissenssammler, und zu
theoretisieren, besitzt Morgenroth bedauerlicherweise nicht. Denn vor allem würde man ja gerne erfahren, was das mit dem
Menschen macht, wenn er so vermessen wird.
Vor wenigen Jahren noch
mussten die Wichtel der Weihnachtsmanufaktur in Himmelspfort jedenfalls in jedem Sommer ein Markt- und Meinungsforschungsinstitut beauftragen, um nicht
versehentlich zu viele Holzeisenbahnen herzustellen, für die sich am Ende
niemand interessiert. Heute geschieht die Marktforschung direkt, während wir
uns im Netz bewegen, ganz ohne unser Einverständnis werden wir ausgewertet. Die
Köchin Sarah Wiener hatte jüngst den Blick darauf gelenkt, wie großartig eine
Marketingkampagne aus lange belächeltem Fleischersatz ein neuen Trend schaffen
kann: Die gewöhnliche Cervelatwurst muss man ja mittlerweile im Supermarkt,
versteckt hinter den Regalen mit Sojasteaks und Blaubeerblutwurstersatz, suchen.
Man kann also auch nicht
einfach aus dem System heraustreten – was ebenfalls nicht die neueste
Erkenntnis ist, wie mir scheint. Neu ist allerdings, dass dies nicht theoretisch
für „alle“ gilt, sondern für „jeden“. Dass der Weihnachtsmann sich mit so einem
absoluten, totalitären Marketing gemein macht, mag ich kaum glauben, und blättere noch
einmal durch die LEGO-Kataloge meiner Kindheit, die ich aufbewahrt habe, und die in
einem besseren Zustand sind als die Spielzeuge selbst.
Markus Morgenroth: "Sie kennen dich! Sie haben dich! Sie steuern dich!" Über die wahre Macht der Datensammler, München: Droemer 2014.
Montag, 9. November 2015
Deutschland, Deutschland
Fußball
ist großartig, großartigst, größtartigst. Man kann überhaupt nur
in supersten Superlativen über Fußball sprechen. Dass da jetzt Geld
geflossen sein soll, wo es nicht fließen sollte – aber so ist das
mit Flüssigkeiten eben, ob nun Geld fließt oder der
Flüchtlingsstrom, die fließen nun mal –, pfff, das interessiert
mich nicht. Ich lass mir mein Sommermärchen nicht verderben von
irgendwelchen schwärzlichen Kassen. Ich hab meine Deutschlandfahne
selbst bezahlt. Und die Quittung habe ich hier abgelegt, besondere
Ausgaben.
Fußball
ist die neue Politik. Lehrte man früher in Frankfurt politische
Theorie, lehrt man heute Fußball-Philosophie. Man geht mit
„Nietzsche ins Stadion“, lernt vor dem Spiel systemische Aspekte
des Fußballs und vertieft sich in die Motivationspsychologie in der
Kabine. Sollen die doch lieber Fußball spielen, statt sich in echt
den Arsch vollzubomben. Auch der Bombenschuss ist harmlos. Alles
harmlos. Da dürfen ja seit zehn Jahren wieder deutsche Fahnen wehen,
weil hier gehört er hin, der Patriotismus, wo er nichts tun kann, wo
im allerschlimmsten Fall der Fälle nach dem Länderspiel der
provokant am Baguette knuspernde Franzose eine Bierflasche an den
Kopf bekommt, aber dann stehen da schon Ordner, die trösten. Wer
samstags ab halb vier anderthalb Stunden lang Fahnen schwenkt, Bier
säuft und „Borussia, Borussia“ brüllt, ist am Montag Abend noch
viel zu heiser, wenn die PEGIDA-Kundgebung stattfindet. Fußball ist
großartig.
Ich
durfte nun das Fußball-Museum in Dortmund besuchen. Fußball ist
Kunst, ist Leben, ist Philosophie, ist Religion. Ein Museum ist
absolut notwendig, um sich über den entscheidenden Teil deutscher
Geschichte gesellschaftlich verständigen zu können. Und zum Glück
ist Fußball so harmlos, musste ich schon zum ersten Mal denken, als
ich am Spind stehend – ich verstaute gerade Kutte, Fahne und
Sechserträger – die deutsche Nationalhymne hörte.
So
häufig habe ich überhaupt selten an einem einzigen Tag Teile der
deutschen Nationalhymne vernommen, gegen die ich, das möchte ich
festhalten, nichts einzuwenden habe. Es fiel mir dennoch auf.
Auch
gegen pathetische Musik und große Momente auf großen Leinwänden
habe ich nichts einzuwenden. Die deutsche Geschichte muss wohl in
dieser Größe präsentiert werden. Und ich gebe gerne zu, das ich
für diese Stimmungen allzu empfänglich bin, Schweinsteigers Blut im
Endspiel, als habe er für uns gelitten.
Schön
wäre es gewesen, wenn das Museum nach diesen Bedeutungen des
Fußballs in irgendeiner Weise gefragt hätte, statt sie noch einmal
zu inszenieren. Schön wäre es auch gewesen, die winzigen
problematischen Punkte, eigentlich Pünktchen oder Pünktelchen, in
angemessener Weise darzustellen: War da was in den späten 1930er
Jahren? Natürlich, haben wir auf einer kleinen Tafel hinten an der
Wand, steht alles drauf, Hitler, Nationalsozialismus, einfach alles.
Oder man zeigt einfach die Trophäen, die Helden, die großen Momente
in unseren vier großen Jahren, während im Hintergrund die
Nationalhymne dudelt. So simpel kann Museum sein.
Fast
hatte ich den Eindruck, es wird in Zukunft ausreichen, die
ankommenden syrischen Flüchtlinge jeweils in einen Deutschkurs und
in unser Fußballmuseum zu stecken. Mehr deutsche Integration geht
überhaupt nicht.
Schlecht
gemacht ist das Museum wirklich nicht, das kann ich nicht sagen. Aber
dass ich mir am Abend nach dem Besuch die deutsche Verdrießlichkeit
zurückwünschte, das fand ich überraschend.
Freitag, 9. Oktober 2015
Meine Meinung zur Meinung
Niklas
Luhmann meinte, der Zweck der Kommunikation ist ihre Fortsetzung. Wer
das nicht glaubt und noch immer irrwitzigerweise beispielsweise den
Zweck eines Arguments darin sieht, dass es überzeugt, der sehe sich
im Netz um. Das Internet wurde einzig mit dem Ziel gebaut, Luhmanns
Theorie der Kommunikation zu beweisen. Und es beweist.
Ich
bin vielleicht gerade etwas Blogumschau-müde, das Problem fiel uns
allerdings immer wieder auf und mal konnten wir etwas dagegen tun,
mal gelang das nicht: Ich schrieb zum Beispiel über die
Berichterstattung über die Fußballweltmeisterschaft 2014. Also
genauer, das eigentliche Ereignis: Da spielten echte Männer,
kleinere Jungens und ein paar Werbefiguren Fußball und ein paar
Brasilianerinnen tanzten im Hintergrund Samba, was sie offenbar immer
tun. Darüber berichteten Journalisten und Reporter, die vor Ort
Fußball und Samba beobachteten. Über die Berichterstattung
berichteten Blogger, die sich über zu viel Samba und zu wenig
Fußball ärgerten. Über diese Blogger berichtete die Blogumschau,
die von Fußballer- und Tänzerinnenschweiß drei Meta und sehr viele
Kilometer entfernt war.
Die
Position eines Beobachters der Beobachter, die kann ja auch originell
sein. Sie ist aber mittlerweile die typischste
Internetsprecherposition. Der allergewöhnlichste Fall, am Beispiel
des literarischen Quartetts: Autoren schreiben Bücher über die im
Fernsehen diskutiert wird. Die Fernsehdiskussion wird in den
Zeitungen breit besprochen. In den Blogs wird wahlweise die
Fernsehsendung oder die Fernsehsendungsberichterstattung besprochen.
Und die Blogartikel werden wiederum kommentiert. Und der Klassiker
der Kommentare lautet dann ungefähr so: „Ranicki ist sowieso
unerreichbar, von Literatur haben die in den klassischen Medien gar
keine Ahnung mehr. Das ist alles nur noch Marketing. Ich habe die
Sendung deshalb gar nicht erst gesehen!“
Es
fällt nicht einmal mehr auf, dass die Kommentare keinen Bezug zum
eigentlichen Ereignis haben, also zur Fernsehsendung (die Bücher hat
selbstverständlich ohnehin niemand gelesen, der sich über die
Sendung auslässt). Im Laufe der Kommentare der Kommentare der
Kommentare hat sich der Gegenstand längst aufgelöst, es bleibt ein
bisschen Meinung zurück, die die Kommunikationsdampfmaschine am
Laufen hält.
Oder
Amazon: Ein Buch, eine Rezension zum Buch, ein Kommentar zur
Rezension zum Buch, eine Bewertung des Kommentars zur Rezension zum
Buch. Neben Luhmann wusste Kafka natürlich auch, was da mit dem
Internet auf uns zukommt. Im „Proceß“ führt er vor, wie eine
Geschichte sich auflöst in ihre Kommentare. Medienkritik, so scheint
es mir manchmal seitdem die Kritik an der Ukraine-Berichterstattung
abgeflaut ist, Medienkritik ist das langweiligste, was man überhaupt
betreiben kann. Ja, auch dieser Text fällt dann selbstverständlich
darunter: redundant, langweilig, überflüssig. Wenn überall zu
Kommentar und Spritzgebäck geladen wird, ist die Metahaltung keine
Kunst mehr. Schweigen müsste man können.
Zu Luhmann vor allem: Niklas Luhmann: Was ist Kommunikation?, in: Soziologische Aufklärung Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, 3. Aufl., Wiesbaden 2008.
Und Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.
Dienstag, 29. September 2015
Das Überstflüssige
Die
Beobachtung ist nicht besonders originell: Im Internet kann jeder
seinen Senf zu jedem Würstchen dazugeben. Alle Dinge, so scheint es,
sinken im Netz zum reinen Gesprächsanlass herab. Sie sind nur noch
dafür da, eine Meinung äußern zu können. Und wenn ich solche
Aussagen hier nun gleich wiederhole, wiederhole ich das Unnötige,
das Überflüssige, das Un-un-unbrauchbare.
Ich
lese Thomas Mann nicht gerne. Den „Zauberberg“ zum Beispiel mag
ich nicht. In Gesprächen habe ich das auch dem einen oder anderen
mitgeteilt – ob das jemanden interessiert hat, weiß ich nicht, die
gerunzelten Stirnen sind vergessen. Darüber schreiben würde ich
allerdings nicht, wenn ich es nicht gerade getan hätte. Meine
persönliche kleine Antipathie, wofür soll die gut sein? Mich hat
auch keiner danach gefragt.
Ach
so, stimmt nicht, denn Amazon fragt mich. Da könnte ich also auf die
Idee kommen, dass das irgendjemanden interessiert, was ich zu einem
Klassiker der Weltliteratur meine – in dem Wissen, dass meine
Meinung so jedenfalls nur eine Meinung ist und ich vielleicht auch
nicht der Literaturkritik letzten Schluss über Manns Romane äußere,
wenn ich rachegewillt, nach einem langweiligen Abend, der mit seinem
Buch endete, Herrn Mann mit einem Sternchen abstrafe.
Oder
mit „Loewendoros“ Worten: „Was
am "Zauberberg" aber verzaubern soll, kann ich nicht
verstehen. Und wenn ich mich mit einem Buch rumquäle, wo es soviele
Bücher gibt, die lesenswert sind, ist mir meine Zeit dann doch zu
schade, um sie mit Hans Castorps Fieberkurve zu verbringen.
Ich hoffe nur, ich komme deshalb nicht ins Literaturfegefeuer!“
Ich hoffe nur, ich komme deshalb nicht ins Literaturfegefeuer!“
Über
das „Literaturfegefeuer“ weiß ich nichts, aber wenn hier schon
mal die geistlichen Autoritäten aufgerufen sind, zitiere ich gerne
Jesus von Nazareth:
„Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben
am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie
geredet haben.“ Da kann man ja nur hoffen, dass anonyme Äußerungen
im Netz nicht gemeint sind.
Denn
was schreibt Kaddi Kattubi über Kafkas „Proceß“:
„Zuerst
dachte ich noch, es wäre doch genial, wenn Kafka dem Mann Josef K.
am Ende eine Paranoia anhängt und sich alles nur aufgrund des
Verfolgungswahns und geistiger Umnachtung ausgedacht hätte.
Dem
war aber leider nicht so.“
Ahh,
so hätte es also was werden können mit dem literarischen
Durchbruch. Danke für den Hinweis, aber als hätte Kafka geahnt,
dass der „Proceß“ nichts taugte, wollte er ihn doch eigentlich
nie veröffentlichen, nicht wahr, Mazda:
„Lächerlich
finde ich, dass viele Stellen so verwirrend sind, dass sie keiner
eindeutig interpretieren kann. Teilweise fragt man sich, ob überhaupt
der Autor selbst wusste, was er damit sagen will.
Die persönliche Einstellung von Kafka dieses Werk nie zu veröffentlichen, war daher, meiner Meinung nach,die Richtige.“
Die persönliche Einstellung von Kafka dieses Werk nie zu veröffentlichen, war daher, meiner Meinung nach,die Richtige.“
Andere
Leser dagegen können dem „Proceß“ vielleicht noch etwas abgewinnen,
aber Kafkas „Schloß“? Nun ja, nun ja, die durchaus
differenzierte Ansicht von Da..Ko:
„Alles
in allem ein gutes Werk, dass man empfehlen kann, doch Kafka in
"Höchstform" ist es leider nicht.“
Und
wirklich jeder ist mal dran. Es gibt eine insgesamt gerechte
Verteilung der überflüssigen, dummdreisten Urteile über alle
Autoren von Rang. Tiecks „Hexensabbat“, das ich hier im Blog
gerade so begeistert erwähnte, kann M. Stier leider nichts
abgewinnen, obwohl er es sogar kostenlos auf seinem Kindle lesen
durfte:
„ich
habe das Buch nach einer halben Seite vom Kindle geschmissen. Die
Sätze sind teilweise eine halbe Seite lang und schwer
nachzuvollziehen. Klar, dass das Buch kostenlos zum Runterladen
ist!!!“
Dieses
alte Zeug aber auch. Da ist man schon einmal bereit sich auf Texte,
oder wie das heißt, einzulassen, ohne Bildchen, ohne Liedchen, ohne
Drumherumchen. Und dann machen die es einem so schwierig, bekommen
die einfachsten Handlungsmotivationen nicht auf die Kette, wie ein
Kunde über den „Sandmann“ weiß:
„der
sandmann ist eine kurzgeschichte, die mich nicht vom hocker gerissen
hat. nathanael beginnt leider zu spinnen und sich in eine holzpuppe
zu verlieben, anstatt ein glückliches leben mit clara zu
verbringen.“
Und
natürlich ist es ein Missverständnis zu denken, solche Rezensionen
sagten irgendetwas über die Literatur aus, über manches
vielleicht, aber nicht über die Literatur, die hält nur her, als
Gesprächsanlass, Druckablass, so jedenfalls verstehe ich, um damit
zu schließen, sinex85:
„Nathan
der Weise, ist wieder eines dieser Bücher, die ich persönlich
niemals aus freien Stücken lesen würde. Es ist eines jener Werke,
die man in meinen Augen missbraucht um angehende Abiturienten zu
quälen :-( und ihnen die Lust am Lesen zu verderben.“
Nein, ich hatte ich gar nicht gefragt.
Donnerstag, 17. September 2015
Der Moment des Kippens
In
manchen Momenten kann ich Politiker beneiden: den beruhigenden Blick
auf Bundestagsdiäten beispielsweise, den stelle ich mir schön vor.
Oder auch ein Forschungszentrum einzuweihen, am besten etwas
löbliches: Erforschung jüdischer Gemeinden in Deutschland oder so;
natürlich nicht eine umstrittene Forschung, wie Primaten
nacheinander Shampoos und Hirnstöße verabreichen. Da würde ich
dann meinen Altmaier schicken. Aber da gibt es durchaus schöne
Momente in einem Politikerleben, wie ich es mir vorstelle.
In
diesen Tagen allerdings möchte ich kein Politiker sein, da bin ich
froh, weit weg von jeder Entscheidung zu sein, nichts mit
Asylpolitik, Innerer Sicherheit, EU-Politik zu tun haben.
Grenzkontrollen wurden eingeführt – aber was bedeutet das? Die
Tragweite einzelner Entscheidungen ist derzeit überhaupt nicht
abzusehen. Rückt Deutschland jetzt nach rechts, links, in die Mitte,
zwischen die Stühle oder bleibt es auf dem Sonnendeck? Ein „Welcome“
im Bus treibt uns die Tränen in die Augen, brennende
Flüchtlingsheime könnten das auch. Es geschieht zu viel in zu kurzer
Zeit, das wir kaum einordnen können, das uns „bewegt“ und zur
Solidarität treibt, aber dessen Folgen wir nicht verstehen.
Und
mit einzelnen Meldungen werden immer wieder die großen Geschichten
angerufen: Europa zerbricht! Rechtsradikalisten erstarken! Zerfall
des gesellschaftlichen Zusammenhalts! Wer weiß denn schon, was
passieren wird? Am Ende das Jüngste Gericht, aber bis dahin fließt
noch viel Wasser am alten Arsch, dem Kölner Dom, vorbei.
Ludwig
Tieck hat vor 200 Jahren ein grandioses Buch geschrieben, über das
man in diesen Tagen trefflich nachdenken kann. Es heißt „Der
Hexensabbat“. Das Buch behandelt den historischen Beginn der
Hexenprozesse in Europa. Hatte bis dahin die Kirche eher Ketzer auf
die Folterbank gespannt, ging man nun dazu über Hexen zu verbrennen.
Historische Romane haben das Problem, dass sie von der
Geschichtsforschung überholt werden können – und mit Tiecks Roman
ist das sicher geschehen. Er hält den intensiven Forschungen zu
Hexenprozessen wohl kaum noch Stand. Aber das ist nicht mein Thema,
und es schadet dem (damals exzellent recherchierten) Roman auch
nicht.
Es
geht um den historischen Moment des Kippens, wie man es nennen
könnte. Wenn aus einer Gesellschaft, die sich gerade freut, dass die
unsinnigen Ketzer-Prozesse vorbei sind, dass Vernunft einkehrt und
die Städte mehr Freiheit haben, eine Gesellschaft des Hasses und der
Angst wird, die erlebt, dass, wie in einer Lawine aus Ereignissen,
genau das Gegenteil des Erhofften geschieht: Menschen werden wegen
angeblicher Hexerei angeklagt und verurteilt.
Die
Romanlektüre lässt sofort die alte Frage herausspringen: Wie konnte
es soweit kommen? Die Schwierigkeit, die
der Text großartig veranschaulicht, ist die der Gegenwärtigkeit. Solange alles gut geht, geht
alles gut. Ging es immer; bis es eben nicht mehr ging. Denn wenn
nicht, dann kann aus dem klugen, zurückhaltenden Abwarten das
Verpassen der letzten Chance werden. Oder das beherzte Handeln
beschleunigt nur einen fatalen Prozess, der im Gegenteil des
Bezweckten mündet. Erst im Nachhinein macht sich der
Literaturwissenschaftler dann über den Roman her oder der Historiker
über die echten Hexenprozesse, jeder wie er kann und mag. Im „Jetzt“
können wir uns noch die lästige Wartezeit an der Grenze auf dem Weg
in den Urlaub als Anekdote erzählen oder den lang geplanten Urlaub
am Plattensee als kleines Abenteuer mit Blick auf echten
Stacheldraht.
Man
hatte in Arras gehört, dass jemand ein paar Städtchen weiter der
Hexerei angeklagt wurde – wunderte sich und lachte.
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