Dienstag, 29. September 2015

Das Überstflüssige

Die Beobachtung ist nicht besonders originell: Im Internet kann jeder seinen Senf zu jedem Würstchen dazugeben. Alle Dinge, so scheint es, sinken im Netz zum reinen Gesprächsanlass herab. Sie sind nur noch dafür da, eine Meinung äußern zu können. Und wenn ich solche Aussagen hier nun gleich wiederhole, wiederhole ich das Unnötige, das Überflüssige, das Un-un-unbrauchbare. 
 
Ich lese Thomas Mann nicht gerne. Den „Zauberberg“ zum Beispiel mag ich nicht. In Gesprächen habe ich das auch dem einen oder anderen mitgeteilt – ob das jemanden interessiert hat, weiß ich nicht, die gerunzelten Stirnen sind vergessen. Darüber schreiben würde ich allerdings nicht, wenn ich es nicht gerade getan hätte. Meine persönliche kleine Antipathie, wofür soll die gut sein? Mich hat auch keiner danach gefragt. 
 
Ach so, stimmt nicht, denn Amazon fragt mich. Da könnte ich also auf die Idee kommen, dass das irgendjemanden interessiert, was ich zu einem Klassiker der Weltliteratur meine – in dem Wissen, dass meine Meinung so jedenfalls nur eine Meinung ist und ich vielleicht auch nicht der Literaturkritik letzten Schluss über Manns Romane äußere, wenn ich rachegewillt, nach einem langweiligen Abend, der mit seinem Buch endete, Herrn Mann mit einem Sternchen abstrafe.

Oder mit „Loewendoros“ Worten: Was am "Zauberberg" aber verzaubern soll, kann ich nicht verstehen. Und wenn ich mich mit einem Buch rumquäle, wo es soviele Bücher gibt, die lesenswert sind, ist mir meine Zeit dann doch zu schade, um sie mit Hans Castorps Fieberkurve zu verbringen.
Ich hoffe nur, ich komme deshalb nicht ins Literaturfegefeuer!“

Über das „Literaturfegefeuer“ weiß ich nichts, aber wenn hier schon mal die geistlichen Autoritäten aufgerufen sind, zitiere ich gerne Jesus von Nazareth: „Ich sage euch aber, daß die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.“ Da kann man ja nur hoffen, dass anonyme Äußerungen im Netz nicht gemeint sind.

Denn was schreibt Kaddi Kattubi über Kafkas „Proceß“:
Zuerst dachte ich noch, es wäre doch genial, wenn Kafka dem Mann Josef K. am Ende eine Paranoia anhängt und sich alles nur aufgrund des Verfolgungswahns und geistiger Umnachtung ausgedacht hätte.
Dem war aber leider nicht so.“

Ahh, so hätte es also was werden können mit dem literarischen Durchbruch. Danke für den Hinweis, aber als hätte Kafka geahnt, dass der „Proceß“ nichts taugte, wollte er ihn doch eigentlich nie veröffentlichen, nicht wahr, Mazda: 
 
Lächerlich finde ich, dass viele Stellen so verwirrend sind, dass sie keiner eindeutig interpretieren kann. Teilweise fragt man sich, ob überhaupt der Autor selbst wusste, was er damit sagen will.

Die persönliche Einstellung von Kafka dieses Werk nie zu veröffentlichen, war daher, meiner Meinung nach,die Richtige.“

Andere Leser dagegen können dem „Proceß“ vielleicht noch etwas abgewinnen, aber Kafkas „Schloß“? Nun ja, nun ja, die durchaus differenzierte Ansicht von Da..Ko:

Alles in allem ein gutes Werk, dass man empfehlen kann, doch Kafka in "Höchstform" ist es leider nicht.“

Und wirklich jeder ist mal dran. Es gibt eine insgesamt gerechte Verteilung der überflüssigen, dummdreisten Urteile über alle Autoren von Rang. Tiecks „Hexensabbat“, das ich hier im Blog gerade so begeistert erwähnte, kann M. Stier leider nichts abgewinnen, obwohl er es sogar kostenlos auf seinem Kindle lesen durfte:

ich habe das Buch nach einer halben Seite vom Kindle geschmissen. Die Sätze sind teilweise eine halbe Seite lang und schwer nachzuvollziehen. Klar, dass das Buch kostenlos zum Runterladen ist!!!“

Dieses alte Zeug aber auch. Da ist man schon einmal bereit sich auf Texte, oder wie das heißt, einzulassen, ohne Bildchen, ohne Liedchen, ohne Drumherumchen. Und dann machen die es einem so schwierig, bekommen die einfachsten Handlungsmotivationen nicht auf die Kette, wie ein Kunde über den „Sandmann“ weiß:

der sandmann ist eine kurzgeschichte, die mich nicht vom hocker gerissen hat. nathanael beginnt leider zu spinnen und sich in eine holzpuppe zu verlieben, anstatt ein glückliches leben mit clara zu verbringen.“

Und natürlich ist es ein Missverständnis zu denken, solche Rezensionen sagten irgendetwas über die Literatur aus, über manches vielleicht, aber nicht über die Literatur, die hält nur her, als Gesprächsanlass, Druckablass, so jedenfalls verstehe ich, um damit zu schließen, sinex85: 

Nathan der Weise, ist wieder eines dieser Bücher, die ich persönlich niemals aus freien Stücken lesen würde. Es ist eines jener Werke, die man in meinen Augen missbraucht um angehende Abiturienten zu quälen :-( und ihnen die Lust am Lesen zu verderben.“
 
Nein, ich hatte ich gar nicht gefragt.

Donnerstag, 17. September 2015

Der Moment des Kippens

In manchen Momenten kann ich Politiker beneiden: den beruhigenden Blick auf Bundestagsdiäten beispielsweise, den stelle ich mir schön vor. Oder auch ein Forschungszentrum einzuweihen, am besten etwas löbliches: Erforschung jüdischer Gemeinden in Deutschland oder so; natürlich nicht eine umstrittene Forschung, wie Primaten nacheinander Shampoos und Hirnstöße verabreichen. Da würde ich dann meinen Altmaier schicken. Aber da gibt es durchaus schöne Momente in einem Politikerleben, wie ich es mir vorstelle.

In diesen Tagen allerdings möchte ich kein Politiker sein, da bin ich froh, weit weg von jeder Entscheidung zu sein, nichts mit Asylpolitik, Innerer Sicherheit, EU-Politik zu tun haben. Grenzkontrollen wurden eingeführt – aber was bedeutet das? Die Tragweite einzelner Entscheidungen ist derzeit überhaupt nicht abzusehen. Rückt Deutschland jetzt nach rechts, links, in die Mitte, zwischen die Stühle oder bleibt es auf dem Sonnendeck? Ein „Welcome“ im Bus treibt uns die Tränen in die Augen, brennende Flüchtlingsheime könnten das auch. Es geschieht zu viel in zu kurzer Zeit, das wir kaum einordnen können, das uns „bewegt“ und zur Solidarität treibt, aber dessen Folgen wir nicht verstehen.

Und mit einzelnen Meldungen werden immer wieder die großen Geschichten angerufen: Europa zerbricht! Rechtsradikalisten erstarken! Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts! Wer weiß denn schon, was passieren wird? Am Ende das Jüngste Gericht, aber bis dahin fließt noch viel Wasser am alten Arsch, dem Kölner Dom, vorbei. 
 
Ludwig Tieck hat vor 200 Jahren ein grandioses Buch geschrieben, über das man in diesen Tagen trefflich nachdenken kann. Es heißt „Der Hexensabbat“. Das Buch behandelt den historischen Beginn der Hexenprozesse in Europa. Hatte bis dahin die Kirche eher Ketzer auf die Folterbank gespannt, ging man nun dazu über Hexen zu verbrennen. Historische Romane haben das Problem, dass sie von der Geschichtsforschung überholt werden können – und mit Tiecks Roman ist das sicher geschehen. Er hält den intensiven Forschungen zu Hexenprozessen wohl kaum noch Stand. Aber das ist nicht mein Thema, und es schadet dem (damals exzellent recherchierten) Roman auch nicht.
Es geht um den historischen Moment des Kippens, wie man es nennen könnte. Wenn aus einer Gesellschaft, die sich gerade freut, dass die unsinnigen Ketzer-Prozesse vorbei sind, dass Vernunft einkehrt und die Städte mehr Freiheit haben, eine Gesellschaft des Hasses und der Angst wird, die erlebt, dass, wie in einer Lawine aus Ereignissen, genau das Gegenteil des Erhofften geschieht: Menschen werden wegen angeblicher Hexerei angeklagt und verurteilt.

Die Romanlektüre lässt sofort die alte Frage herausspringen: Wie konnte es soweit kommen? Die Schwierigkeit, die der Text großartig veranschaulicht, ist die der Gegenwärtigkeit. Solange alles gut geht, geht alles gut. Ging es immer; bis es eben nicht mehr ging. Denn wenn nicht, dann kann aus dem klugen, zurückhaltenden Abwarten das Verpassen der letzten Chance werden. Oder das beherzte Handeln beschleunigt nur einen fatalen Prozess, der im Gegenteil des Bezweckten mündet. Erst im Nachhinein macht sich der Literaturwissenschaftler dann über den Roman her oder der Historiker über die echten Hexenprozesse, jeder wie er kann und mag. Im „Jetzt“ können wir uns noch die lästige Wartezeit an der Grenze auf dem Weg in den Urlaub als Anekdote erzählen oder den lang geplanten Urlaub am Plattensee als kleines Abenteuer mit Blick auf echten Stacheldraht.

Man hatte in Arras gehört, dass jemand ein paar Städtchen weiter der Hexerei angeklagt wurde – wunderte sich und lachte.